Allgemein · Hiking, Wandern, Unterwegs sein · Zugabe

Wanderung Nummer 21 – Zur Ölmühle

Immer noch laufe ich zu lange in die falsche Richtung. Immer noch halte ich den Weg, den ich eingeschlagen habe – trotz der aufgekommenen Zweifel – für den, der ein ganzes Stück gegangen werden muss, um ihm eine Chance zu geben. Lernen kann äußerst schmerzhaft sein. Vielleicht sollte ich „Ölmühle“ als Synonym für „Umkehr“ in meinem aktiven Wortschatz verankern.

Dabei fängt alles so gut an. Ich finde sogar den Ort „Eicherscheid“ auf Anhieb, von dem aus der Rundweg Nummer 47 startet. Unterwegs fahre ich durch wunderschöne Winterlandschaft, so traumhaft, dass ich am liebsten mehrfach anhalten und erste Bilder machen möchte. Die Sonne scheint, alles ist strahlend weiß. Unschuldiger kann sich ein Weg, eine Landschaft, kaum präsentieren.

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Der Schnee ist zwar von gestern, und vor mir waren auch schon andere Winterwanderer unterwegs, aber er knirscht eisig unter meinen Schuhen und so manche Wegeskuhle, in der in den letzten Wochen das Wasser schwamm, ist tiefgefroren und mit Puderzucker bestäubt. Ich gehe drumherum, um die Mini-Eisflächen nicht zu zerstören.

Der Ölmühlenweg ist vergleichsweise kurz, nur knapp 10 Kilometer will ich heute laufen. Ich trage stolz mein neues Fernglas bei mir, ein Geschenk meiner Kinder zum Geburtstag, das erste meines Lebens. Leider ist das erste Tier, ein Reh, so schnell, dass ich nicht reagieren kann. Das zweite, ein Fuchs, ist hingegen so nah, dass ich das Fernglas nicht brauche.

An manchen Stellen sind die Wegweiser verwirrend, zeigen in zwei Richtungen, während ich aus der dritten auftauche. Viele Wege führen nach Rom, und so treffe ich meistens die richtige Entscheidung. Meistens.

Die Sonne gibt ihr Bestes, aber die Minusgrade kann sie nicht ins Plus verkehren. Das macht nichts. Ich knirsche frohgemut vor mich hin, unterwegs werde ich gefühlte fünf Mitmenschen treffen, die es mir gleich tun. In Kanada staunt man immer über die 80 Millionen Deutschen, die sich ein vergleichsweise winziges Land teilen. Wo sind die alle? Das frage ich mich eigentlich jedes Mal, wenn ich unterwegs bin. Hier sind sie jedenfalls nicht, und wie immer bin ich sehr froh darüber.

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Eicherscheid ist ein hübsches Dorf, schon mehrfach gab es Schönheits-Preise. Es gibt gut gepflegte Fachwerkhäuser und viele viele typische Eifel-Hecken, die dem Wind trotzen. Auch außerhalb des Ortes sind sie anzutreffen, und am Ende meiner Wanderung erfahre ich, dass die Dorfleute darum gekämpft haben, sie zu erhalten: Durch Vererben von Landflächen wurden diese immer weiter aufgeteilt und die Hecken als Begrenzung zeigen deutlich, wem welches Stück Land gehört. Die immer größer gewordenen Maschinen, die statt der Menschen heute üblicherweise die Ländereien beackern, können hier nichts ausrichten.  Aber die Eicherscheider haben entschieden: Die Hecken bleiben, das Land wird anders genutzt.

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Ich glaube, den „Flurheckenweg“, den ich hier nur streife, werde ich zu einer meiner Sommerwanderungen machen.

Weil es so kalt ist heute, hole ich mein pinkfarbenes Lieblingsgerät nicht ganz so oft aus der Tasche. Dennoch habe ich am Ende über 100 Bilder geschossen, denn der Weg ist einer der schönsten, die ich bisher gegangen bin. Natürlich liegt das auch am Schnee. Ich werde mich an diesen Winter als einen schneereichen erinnern. Ganz im Gegensatz zu meinen Freunden, die erst in den letzten Tagen in den Genuss weißer Tage gekommen sind. Aachen friert.

Die Ölmühle – das wird mir klar, als ich dran vorbei laufe, liegt nicht zum ersten Mal an meinem Wegesrand. Auch, wenn ich mich an viele Wanderungen deutlich erinnere, muss ich erst nachforschen, bei welcher Gelegenheit ich denn hier vorbeigekommen bin. Fündig werde ich beim „Zwei-Täler-Weg“. Ein Ölmühlenbild habe ich damals nicht gemacht, ebenso wenig wie heute. Aber ein Foto vom Holzkreuz vor dem Ölmühlenwohnhaus. Heute bevorzuge ich die Eule als Motiv. Holzkreuze habe ich schon genug.

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Vorher aber treffe ich eine schmerzhafte Fehlentscheidung. An einer Weggabelung fehlt das 47er-Schild und ich laufe statt in den Wald hinein eine kleine Straße hoch. Es plätschert am linken Wegesrand. Oben, am höchsten Punkt, finde ich ein Forsthaus vor – Pucki lässt grüßen – und erst am Schild mit der Information „Kein Winterdienst“ – ja, das hatte ich durchaus schon bemerkt – kehre ich um. Die Straße hat ungefähr 16 Prozent Gefälle, und während ich noch darüber nachdenke, wie es wohl wäre, hier zu wohnen und mich gerade für den Kauf eines Jeeps entschieden habe, spüre ich das 16prozentige Gefälle auch schon deutlich an meinem Steißbein. Ich kann nicht mal „Scheiße“ denken, so schnell sitze ich Knochen auf Eis.  Das Ganze ist fünf Tage her und ich schreibe im Stehen. Muss ich mehr erzählen?

Als ich mich von meinem Schreck – nicht von meinem Schmerz – erholt habe, probiere ich auf „offener Straße“ aus, ob alle meine Knochen am rechten Platz sitzen. Ich gehe auf die Knie – trotz gerade fehlenden Holzkreuzes – mache in Eis und Schnee den Yoga-Katzenbuckel und die „Stellung des Kindes“ und bin wechselweise erleichtert und enttäuscht, dass niemand vorbeikommt, um mich aufzurichten. Irgendwie schaffe ich es, wieder auf die Beine zu kommen. Lautes Jammern nutzt nichts und deshalb fluche ich leise vor mich hin. Aber ein Foto vom Absturzort kann ich mir nicht verkneifen.

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Jeder Schritt tut höllisch weh und ich weiß, dass es mangels Kühlpack am sinnvollsten wäre, blankzuziehen und mein Steißbein in den Schnee zu setzen. Da ich die Frage, wie ich wieder hochkommen soll, nicht beantworten kann, lasse ich es bleiben und wandere weiter – mit Trippelschritten,  wie eine alte Chinesin.

Im weiteren Verlauf des Weges, auf dem mir ziemlich kalt wird, weil ich nicht schnell genug unterwegs bin, wird mir klar, dass es mich weitaus schlimmer hätte treffen können. Der kleine Fuchs, dem ich begegne, sollte mir eine Warnung sein: Es wäre möglicherweise sinnvoll, einsame Wanderungen mit Nummernangabe in meinem Freundeskreis kundzutun. Als tiefgefrorene Wanderseniorin möchte ich jedenfalls nicht enden.

Ich entscheide mich dafür, das Glas als halbvoll zu betrachten – schließlich hätte ich mir durchaus auch ein Bein brechen oder mir schon früh in meinem Leben den berühmten Oberschenkelhalsbruch zuziehen können – und trippele weiter, wohl wissend, dass ich noch fast die Hälfte des Weges vor mir habe. Super Jungs muntern mich auf, obwohl ich Graffiti im Wald eigentlich nicht mag.

Der heutige Hüttenspruch bedarf einer Interpretation. Ich bin noch unschlüssig, ob ich für mich beanspruchen sollte, dass er etwas mit meinem Steißbein zu tun haben könnte.

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Ich weiß, ich würde diesen Weg genießen, wenn ich in normaler körperlicher Verfassung wäre. Vermutlich ist das ein Zeichen: Er will noch einmal gegangen werden. Ohne jedes Gefälle.

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Und so verabschiede ich mich, gemeinsam mit der Sonne. Wir werden wiederkommen.

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Wanderung Nummer 14: Der Kalltal-Weg

. . . oder: Der Versuch zählt!

Heute boykottiert die ASEAG meine Wanderambitionen: Eher zufällig stelle ich fest, dass die in der Aachener Zeitung schon heftig diskutierte und ziemlich negativ bewertete Fahrplanänderung auch „meine“ Linie SB63 betrifft. Und zwar seit heute. Na super! Ein Auto muss her. Auf das Carsharing-System ist wie immer Verlass: In nicht mal einer Minute habe ich „mein“ Auto gebucht.

Der Wetterbericht ist – je nach Sichtweise – vielversprechend bis furchtbar. Schnee (jaaaa!) und stürmische Zeiten (uppps! Da fliegen die Äste, und die Bäume kippen um!) werden vorhergesagt. Soll ich? Soll ich nicht?

Da ich den letzten Sonntag – angesichts der für gestern geplanten Renovierungsarbeiten in der Wohnung, die ich eigentlich in Kürze verlassen wollte – im Schwedischen Möbelhaus statt in freier Natur verbringen musste – immerhin: Holz gibt’s da auch – bin ich gnadenlos. Was machen mir schon ein paar Schneeflocken aus? Wie alle Winterkinder liebe ich Schnee. Und es gibt ihn hier immer seltener. Im letzten Winter habe ich kein Flöckchen gesehen. Zumindest erinnere ich mich nur an „uselige“ graue Stadt-Tage.

Das wird heute ganz anders. Frohen Mutes wandere ich – erste Aachener Flocken in Sicht – zum Autoparkplatz und fahre los nach Lammersdorf. Dort nämlich startet die fast zwölf Kilometer lange „Kalltal-Keltzerbach-Route“, die ich mir – gegen jegliche Vernunft – für heute vorgenommen habe.

Unterwegs schneit es heftig. Das Auto-Außen-Thermometer vermeldet minus zwei Grad. Der Schnee bleibt liegen. In Nullkommanix sind die Straßen weiß. Und ich bin mitten drauf! Seit wie vielen Jahren bin ich nicht mehr auf einer Schneedecke gefahren? Kann ich das überhaupt noch? Bin ich zu schnell unterwegs? Oder eher zu langsam? Was will der Typ mit dem dicken Jeep hinter mir? Ich ignoriere ihn und schleiche weiter. Lieber lebend als gar nicht ankommen. Oben, an „Fringshaus“, am Ende der „Himmelsleiter“, ist richtiger Winter. Das war es doch, was ich wollte. Oder?

Irgendwie schaffe ich es bis Lammersdorf. Ich parke an der Kirche und habe erst mal Hunger. Dann suche ich das Wanderroutenschild mit der Nummer 12 und stapfe los. Ganz Lammersdorf ist ein Bilderbuch-Weihnachtsdorf.

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Ich denke an Astrid Lindgrens „Bullerbü“. Die pure Kindheitsidylle. So will man als Kind leben. Davon träumt man als Erwachsener. Man fährt nach Schweden und besucht das Filmdorf. Man bestaunt die roten Holzhäuschen und fragt sich, ob die Menschen, die dort wohnen, glücklicher sind als man selbst. Man drückt sich die Nasen platt an Immobilien-Schaufenstern und surft durchs weltweite Netz, um nach Häusern am schwedischen See zu suchen. Und dann läuft man durch die Eifel – keine halbe Stunde entfernt von „zu Hause“ – und findet das alles in nächster Nähe. Und nun? Ist „Smaland“ besser als die Eifel? Zumindest klingt es schöner.

Der Weg führt mich aus dem Ort heraus, und hier ist es richtig Winter. Es sieht wunderschön aus, zumindest das, was ich durch die Schneeflocken erkennen kann. Hui! Hier pfeift es ganz schön. Der Wind pustet mir kleine Eiskristalle ins Gesicht. So müssen sich Himalaya-Bergsteiger fühlen. Vor allem meine Beine in den durchlöcherten Jeans fühlen sich so an, als seien Erfrierungen der nächste Schritt in Richtung Wahnsinn. Natürlich bin ich alleine. Meine Füße stapfen durch jungfräulich reinen Schnee.

Manchmal sinken sie auch darin ein. Schneeverwehungen. Die bisher theoretisch gewusste Bedeutung der Eifeler Buchenhecken wird mir praktisch klar, als eine davon sich zwischen mich und die Ebene schiebt: Der Wind und damit die kleinen Nadelstiche ins Gesicht werden ausgeschlossen. Ich atme durch.

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Was ich von Anfang an geahnt habe, verdichtet sich nach und nach zur Gewissheit: Hier heute alleine herumzulaufen, ist vollkommen idiotisch! Ich merke, dass ich ängstlich werde. Das hab ich schon öfter festgestellt: Es liegt an den Geräuschen. Auch, wenn sie noch so schön klingen, krampft sich eine winzige Magenecke zusammen. Lautes Bachgeplätscher, Windwehen, Schneekristallflirren, Baumächzen. Natürlich sind manche Sorgen berechtigt. Ich möchte ungern unter einem herabfallenden Ast enden. Noch eine Viertelstunde. Dann entscheide ich mich für Fortsetzung oder Abbruch.

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Es ist schön hier. Keine Frage. Ich brauche keine Sonne, um loszulaufen. Schwarz, weiß, grau hat so viele Nuancen. Es gibt so wenige Gelegenheiten, erste Fußspuren zu hinterlassen.

Ein wieherndes Wesen begrüßt mich. Vermutlich hält es mich für eine Futterüberbringerin. Tut mir Leid, ich bin nur eine Wandersfrau, die nicht ganz bei Trost ist. Die nicht nur die Aachener Verkehrsbetriebe sondern auch das Wetter bezwingen will. Die noch nicht verstanden hat, dass manchmal ein bisschen Demut angebracht ist.

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Noch ein Stückchen. Ich überquere eine Landstraße. Der Schneepflug fährt vorbei und verwandelt die weiße Wattewelt in schmutziges Grau. Wie so oft auf meinen Wanderungen der letzten Wochen komme ich an einem Wegekreuz vorbei. Die Gegend hier ist christlich, katholisch, geprägt. Das fällt mir immer wieder auf. In der Stadt spielt das alles keine Rolle mehr. Da ist der Dom, die schönste Kirche der Welt, eher Weltkulturerbe als Gotteshaus, eher Touristenmagnet als Gebetsort. So ist es nun mal. Man mag darüber denken, was man will. Manchmal bedauere ich es, meist nehme ich es hin.

Ich gebe nicht schnell auf. Aber hier und heute ist es angebracht. Ich drehe um. Meine Fußspuren, die einzigen, sind schon zugeweht. Wieder im Ort, ist der Unterschied zwischen Straße und Gehweg nicht mehr zu erkennen. Winterwunderwelt. Die Kirchenglocken läuten den Mittag ein. Die Kirchentür ist nicht abgeschlossen. Die Krippe schon aufgebaut, die Fenster leuchten, niemand ist hier. Nur ich. Kein Klo. Mir bleibt nur die Kneipe von gegenüber. Die Herren am Kartentisch nehmen mich gar nicht wahr. Aber ich bin willkommen.

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Der Weg zurück nach Aachen ist ein kleines Abenteuer. Es war kurz. Aber schön. Die Route gefällt mir, ich werde wiederkommen. Ich fürchte, ich brauche eine Wanderhose.

Und während ich hier schreibe – im frisch renovierten Zimmer  – geht in Aachen der Schnee schon wieder in Regen über.

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Wanderung Nummer 12: Der Birgeler Urwald oder . . .

. . . Alte Heimat-Route Zwei

Der Wandertag beginnt ein bisschen schräg. Ich informiere mich über mehrere Wandermöglichkeiten ab Roetgen oder Einruhr – und dann verpasse ich den Bus! Der nächste fährt erst um viertel vor Zwölf. Viel zu spät. Was tun?

Zuerst mal wandere ich nach Hause zurück. Dort konsultiere ich die übrig gebliebenen „Zeitungsrouten“. Die meisten sind mir zu kurz. Bleiben der Aachener Wald (den ich schon ziemlich gut kenne) und der „Birgeler Urwald“. 13 Kilometer lang soll der entsprechende Rundweg sein. Das Problem ist nur: Er startet ab „Haus Wildenrath“ und ich habe vor einigen Wochen schon einmal einen Anlauf unternommen, diesen Startpunkt zu finden. Ist mir nicht geglückt.

Da ich inzwischen weiß, wo ich mich verfahren habe, gucke ich ein bisschen genauer in die Google-Map und lerne den Weg so besser kennen: B57, K 29, L19, Hetzerath liegt rechts, Matzerath links, durch Myhl muss ich durch. Schnell ein Auto gebucht – bis 18.00 Uhr – und ich verlasse zum zweiten Mal das Haus.

Um es kurz zu machen: Dieses Mal finde ich „Haus Wildenrath„, ein Zentrum des „NABU“. Aber einfach war das nicht. Erst als ich mich eigentlich nicht mehr verfahren kann, kommt das erste und einzige Hinweisschild in Sicht. Da muss der Kreis Heinsberg aber noch mal ran!

Der Kreis Heinsberg. Meine „alte Heimat“. Ich kenne mich hier aus – und doch wieder nicht. In den letzten zehn, zwanzig Jahren wurde hier eine Umgehungsstraße nach der anderen gebaut – und alle sehen gleich aus. Man kann schlecht drehen, wenn man sich verfahren hat, weil Umgehungsstraßen schnelle Straßen sind und weil einem immer jemand auf der Stoßstange hängt.

Als ich endlich angekommen bin, fühle ich mich gestresst und bin irgendwie ärgerlich. Und es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich diesen Ärger wieder weggewandert habe. Der „Birgeler Urwald“ ist auf den ersten Kilometern nicht besonders spektakulär – und schon gar kein Urwald. Warum bin ich so kritisch? Hat es etwas damit zu tun, dass ich in dieser Gegend hier groß geworden und dann „ausgewandert“ bin?

Tatsächlich habe ich am Ende des Weges – ich brauche fast fünf Stunden – mehr Bilder gemacht, als auf all meinen Wanderungen vorher. Das muss einen guten Grund haben.

Am Anfang gehe ich ganz langsam. Der Weg ist eher ein Spazierweg, und im Laufe des Tages stelle ich fest, dass ich immer dann schnell bin, wenn es bergauf geht. Aber es geht selten bergauf. Der Weg ist super gut ausgeschildert, das Symbol lässt mich fast nie im Stich. Für meinen Geschmack gibt es zu viele Mitwanderer und zu viele Berührungspunkte mit der Zivilisation. Zumindest gilt das für die erste Weghälfte. Aber das Wetter ist schön – und die vorherrschende Farbe ist Gelb:

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Langsam entspanne ich mich. Und kriege Hunger. Es gibt wenig Bänke unterwegs, und als die erste in Sicht kommt, packe ich mein Schoko-Croissant und meinen Kaffee aus und picknicke im Stehen. Ein mittelalterliches Paar mit frei laufendem Border Collie kommt mir entgegen. Ich habe keine Angst vor Hunden. Aber ich mag es auch nicht, wenn sie mich anspringen. Zum Glück ist der hier klein. Ich höre die Klänge meiner Kindheit: „Wat hamSe denn auf’m Brot? Schinken?“ Nee, Schokolade. Frauchen und Herrchen sind sich keines Erziehungsversäumnisses bewusst.

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Gestärkt laufe ich weiter und treffe auf das weltberühmte 😉 „Birgeler Pützchen“. Mein ganzes Leben lang kenne ich das Pützchen nur vom Hörensagen, eine Art Wallfahrtskapelle, von der im Dorf die alten Frauen geredet haben. Nie hat es mich hierhin gezogen. Aber nun bin ich da. Und mit mir noch einige andere.

Rund um die Kapelle gibt es überall fromme Zeichen, in Stein gemeißelt, in Holz geritzt.

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Ich laufe einen Kreuzweg entlang und treffe auf einen Friedhof.

Friedhöfe ziehen mich magisch an. Auch dieser hier. Ich kann nicht einfach vorbeigehen, ohne einen Blick auf ein paar Gräber geworfen zu haben. Dadurch werde ich auch den zweiten Hund des Tages los, der mich böse anbellt und der für meinen Geschmack eine sehr viel kürzere Leine bräuchte. „Die hat nur Angst!“  Vor mir etwa?

Mitten im  „Birgeler Urwald“ gibt es immer wieder Buchenblattinseln. Wie kleine Parkflächen. Ich bin längst ausgesöhnt mit meinem Heimatbesuch.

Dann führt mich der Weg raus aus dem Wald. Am Himmel braut sich was zusammen.

Ein Schild am Straßenrand verheißt eine Schutzhütte. Ich wandere auf einer Art „Hochweg“ entlang, rechts liegt ein Campingplatz, offenbar für Dauercamper. Sieht irgendwie nicht schön aus. Auch Wohnwagen und Vorzelte werden grün, wenn man sie nicht pflegt. Ein einziges Mal verlaufe ich mich und lande an einem Zaun rund um ein denkmalgeschütztes Haus. Der Blick lohnt den Abstecher.

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Bevor ich die Schutzhütte  erreiche, die im Jahr 2015 auch schon „Resi und Paul“  – allerdings vermutlich aus anderem Grund – Unterschlupf   geboten hat, ist der Regen schon vorbei. Der spektakuläre Himmel hat sich nur kurz aufgetan. Mich beschleicht das Gefühl, noch ein ganzes Stück vor mir zu haben und ein Blick auf die Wanderzeichnung der Aachener Zeitung bestätigt das. Ich habe getrödelt.

Jetzt aber wird der Urwald erst richtig schön.

Stege wie im „Hohen Venn“ führen durch den Morast und durch die Gräserlandschaft.

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Wenn ich irgendwann in einer Zukunft, von der ich bis vor kurzem dachte, sie sei nicht mehr fern, einen Garten haben sollte, ein winziges Stadtgärtchen, mit Hund, aber ohne Huhn, dann werde ich Gräser pflanzen.

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Bis dahin wandere ich weiter durch Hochmoor und Urwald, vorbei an Pilzen, Bächen, Lärchen, in alter und neuer Heimat.

Ein schöner Tag. Ein schöner Weg. Ich erreiche das Auto rechtzeitig vorm Dunkelwerden.

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Nach Hause findet man immer.

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Wanderung Nummer 10: Gemünder Runde

War ich jemals in Gemünd? Ich glaube nicht. Auch dieser wirklich hübsche Ort lag bisher außerhalb meiner gedanklichen Reichweite. Gemünd –  das liegt in der Eifel. Eifel – das bedeutet Plastikstühle, herbstliche Dekoration aus Jutebändern und Plastikkürbissen, forsche Seniorenwandervereine, Jugendherberge. „Mama“, sagt meine älteste Tochter, als ich ihr von meiner heutigen Wanderung berichte, „da war ich auf Klassenfahrt“. Eben! Sag ich doch!

Ich war auch schon öfter „auf Klassenfahrt“: in Bad Aachen (ja, tatsächlich. Es gab ein Jahr, da waren die Jugendherbergen in der Eifel ausgebucht). In Bad Münstereifel. In Bad Ems. In irgendwelchen Käffern, an deren Namen ich mich auch nach großer Anstrengung nicht erinnern kann. Am Gardasee. Aber das ist eine andere Nummer.

Heute fährt die „SB63“ zum letzten Mal.  Die Wandersaison ist zu Ende. Die Rucksäcke werden geleert, die Stöcke in den Keller gestellt, die Wanderschuhe geputzt und eingesprüht. Das jedenfalls ist die Meinung der ASEAG. Ich habe mir fest vorgenommen, sie zu überprüfen und zu widerlegen. Frostige Tage, Raureif auf den Wiesen und den unter Buchenblättern verborgenen Wegen, Nebelschwaden und im besten Fall Schneeflocken werden doch echte Eifelvereinmitglieder und solche, die es wie ich nicht werden wollen, nicht abschrecken.  Ich kann mich schon im „Hohen Venn“ entdecken, orientierungslos fluchend im Schneegestöber, nach roten und blauen Softshelljacken Ausschau haltend, in denen Menschen stecken, die über eine bessere Orientierung oder ein besseres GPS-Gerät verfügen als ich.

Heute morgen konsultiere ich wie jedes Mal kurz vorm Aufstehen das von Mark Z. ins Leben gerufene soziale Gesichtsbuch. Ich hoffe auf Nachrichten meiner neun Flugstunden entfernt lebenden Kinder – und werde nicht enttäuscht. Eine dieser Nachrichten enthält einen Link zur Mediathek des „Ersten deutschen Fernsehens“: Ist der Wald Medizin? Ein Film, in dem unser aller Lieblingskanadier mitspielen könnte.

In diesem Film geht es um die therapeutische Wirkung des Waldes. Um die Botenstoffe, die – von den Bäumen in meine Richtung gesandt – mir gute Laune machen. Tatsächlich ertappe ich mich auch bei dieser Wanderung mehrfach dabei, wie ich breit grinsend durch den Wald stapfe. Mich sieht ja niemand.

An dieser Stelle möchte ich mich für meine negative Kritik an meiner Wetter-App entschuldigen. Als ich wach werde, regnet es in Strömen. Fast bin ich versucht, mich im Bett nochmal rumzudrehen, aber die Aussicht auf einen Tag mit schlechtem Gewissen – die Schule ist eine Institution, der Sonn- und Feiertage völlig schnuppe sind, irgendeine Stunde will immer geplant, irgendeine Note will immer vergeben, irgendein Protokoll einer mehr oder weniger sinnlosen Sitzung will immer geschrieben werden – lässt mich nach meinem Lieblingsgerät und der darauf vorhandenen Wetter-App greifen. Die Aussichten für die Eifel sind gar nicht so schlecht, es gibt angeblich Regenpausen. Das wäre doch gelacht! Also los!

Die Busfahrt nach Gemünd dauert fast anderthalb Stunden. Und: Der Bus ist voll! Hä? Bei dem Wetter? Vorwiegend junge Menschen mit Regenjacken und Wollmützen diskutieren über sinnvolle Hosenlängen: „Hätte ich nur meine Dreiviertel-Hose mitgebracht!“ Es werden Erfahrungen ausgetauscht – „Also, ich hab in Köln damit angefangen.“, Prognosen erstellt – „Es soll ja gleich aufhören.“ – und Bananen gegessen. Etwa 500 Meter vor Einruhr wird mir alles klar: Heute ist Rursee-Marathon. Der Straßenrand ist zugeparkt, voll motivierte Menschen mit Sportzeug und Nummern auf Brust und Rücken   marschieren in Richtung Start- und Zielpunkt, der Bus fährt eine andere Haltestelle als üblich an, alle steigen aus. Nur ich nicht. Ein ganzer Bus, nur für mich allein. Ich tue ganz entspannt, aber irgendwie ist das komisch. Eine etwa ein Viertel-Jahrhundert alte Erinnerung wird wach:

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Ich sitze in einem vollen Bus und fahre durch die schon weit fortgeschrittene römische Nacht in Richtung Nonnenpension. Dort wohne und arbeite ich, unter der gestrengen Knute von – ja, tatsächlich – „Schwester Hildegard“. Rom bei Nacht ist etwas Besonderes. Es gibt so viel zu sehen! Es sieht alles so anders aus als tagsüber! Man merkt gar nicht, dass es an der fremden Busroute liegen könnte. Erst, als es draußen immer weniger zu sehen gibt und ich irgendwann alleine im Bus bin, wird mir schlagartig klar: Haltestelle verpasst – oder ganz falscher Bus! Der Fahrer fährt stoisch und ohne mich überhaupt wahrzunehmen dahin, wo er vermutlich immer hinfährt um diese Zeit: ins Busdepot. Das wäre auch in Ordnung, säße ich nicht zunehmend verängstigt – Entführung, Raub, Mord und Totschlag, Schwester Hildegard! – auf einem der hinteren Sitze. Ich will hier raus! Aber wo werde ich sein, wenn ich hier raus bin? Ich fasse mir ein Herz, wanke nach vorne, gebe mich zu erkennen und erwarte im besten Fall ein Anhalten am Straßenrand und ein Öffnen der Bustür. Wo ich hin will? Ich gebe meine Adresse durch. Mamma mia! Komplett andere Gegend! Aber – „Isch-schwöre!“, würden meine Schüler jetzt sagen – kein Problem für den römischen Busfahrer. Er dreht ab und fährt mich nach Hause. Nicht gerade bis vor die Tür der Nonnenpension, aber doch fast. Hinter den Mauern des Vatikans lässt er mich raus und ich brauche nur noch die Via delle Mura Aurelie hoch. Und finde den üblichen Zettel mit der Anweisung des morgendlichen Dienstes auf dem Treppenabsatz. Ein Glück, Schwester Hildegard hat nichts gemerkt. Sie wird mich zwei Wochen später trotzdem „entlassen“. Vielleicht kehre ich als Touristin nochmal zurück. Denn eigentlich ist es das perfekte Quartier.

In Gemünd hält der Bus an der Kirche und ich finde den Nationalpark-Info-Punkt und den Einstieg in den Wanderweg T7 fast auf Anhieb. Der Regen hat aufgehört und wird erst auf den letzten hundert Metern meiner Wanderung wieder einsetzen. Es ist kühl – ich vergesse immer wieder, dass die Eifel ein anderes Klima hat als die Stadt Aachen. Beim nächsten Mal werde ich meine Regenjacke mit dem dazugehörigen Fleece-Futter ausstatten müssen. Vielleicht auch eine warme Hose? Mal sehen.

Der Weg wird in der Beschreibung als „anspruchsvoll“ angegeben. Ist er aber nicht. Vielleicht ist der Aufstieg gemeint, der mich auf dem ersten Kilometer dann doch ins Schwitzen bringt. Aber sonst?

Ich stapfe durch Buchenlaub – wie schön das raschelt! – und ganz schnell, wie immer auf diesen Wanderungen, entspanne ich mich und mit mir entspannt sich meine Blase. Ich muss mal. Und auch, wenn doch vergleichsweise wenig Wandervolk unterwegs ist, muss ich nach einem Pipiplatz suchen. Vielleicht dort, hinter dem Verbotsschild? Von Sprengkörpern wie auf der Dreiborner Höhe ist hier nicht die Rede. Warum ist hier „Vorübergehend gesperrt“? Jagdsaison vielleicht? Könnte man mich für eine Wildsau halten? Schlagartig erschließt sich mir der Sinn der knallbunten Wandererjacken! Meine ist schwarz. Und das ist in manchen Situationen gar nicht so verkehrt.

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Wieder auf dem Weg finde ich eine nasse Bank, auf der ich meinen Proviant auspacke. Der Kaffee ist noch warm, das Croissant nicht mehr knusprig, ein mit seinem Frauchen vorbeilaufender Hund würde trotzdem gerne mal reinbeißen, darf aber nicht, und – was sage ich! – die Wolken lassen ein bisschen blaue Farbe und den ein oder anderen Sonnenstrahl durch – nur ganz kurz. Mir ist das aber egal, ich mag dieses nebelige graue Wetter, der Wald ist bunt genug.

Auf dem Weg finde ein Eichenblatt mit einer gelben Kugel, wenig später eines mit einer braunen. Sind das Gallen?

Als ich noch Biologie studiert habe – lang ist’s her – haben mich Gallen ebenso interessiert wie Moose oder Farne. Leider ist mir mein Interesse an der Sache im Laufe des  Unterrichtens immer mehr abhanden gekommen. Es ist schwer, den desinteressierten Blicken pubertierender „Kinder“ den eigenen Enthusiasmus zum Thema Gallen entgegenzusetzen. Kommt im Lehrplan ohnehin nicht vor.

Ich lese noch einmal nach, was ich eigentlich schon weiß: „Gallen“ – so schreibt der NABU“ –  „sind abnorme Veränderungen von Pflanzenteilen wie Wucherungen, Verdickungen oder blasige Gebilde auf Blättern, an Stängeln oder Wurzeln. ( . . . )Die fleischigen, kugeligen oder zipfeligen Objekte sind das Werk von Bakterien, Fadenwürmern, Milben oder Insektenlarven.“ Hm. Mich wundert, dass der NABU für ein Naturphänomen das Adjektiv „abnorm“ benutzt.

Die Gallen, die ich hier auf den Eichenblättern gefunden habe, stammen vermutlich von der Eichengallwespe. Die Weibchen legen ihre Eier auf der Blattunterseite ab. „Die daraus schlüpfenden Larven benetzen kleine Areale an den Blattrippen mit Speichel. Dieser enthält Wirkstoffe, die das Blatt veranlassen, rund um die Larven Gallen zu bilden. Im Inneren der Behausung entwickelt sich die Nachkommenschaft gut geschützt in einer Kammer.“  Die Abwehrstoffe der Wirtspflanze  sind Gerbstoffe, die von uns Menschen zum Gerben von Leder benutzt werden – auch heutzutage noch. „Aus Pflanzengallen wird auch die wertvolle Eisengallus-Tinte hergestellt. Sie ist absolut lichtecht und wird zum Unterzeichnen von Staatsverträgen benutzt.“ Bestimmt setzt Donald T. seine schwungvolle Unterschrift mit Tinte aus Gallen unter seine Dekrete. Wenn das die Wespen wüssten.

Ich laufe weiter. Ein bisschen bergauf geht es doch noch. Und dann lichtet der Wald sich, ein Gatter kommt in Sicht und eine schmale, asphaltierte Straße führt mich in den Ort „Wolfgarten“, von dem ich – wieso auch? – noch nie gehört habe. Bevor ich dort ankomme, treffe ich auf einen meiner kleinen, an dieser Stelle Realität gewordenen Wunschträume: Ich hätte gerne  🐔 🐔 🐔  Nur drei oder vier, der Eier wegen und wegen der Geräusche, die sie machen. Aber wo will man in der Stadt Hühner halten? Bei meinen Recherchen diesbezüglich stoße ich auf einen bekannten Aachener Bio-Hof. „Rent a Huhn“ ist die Devise. Das wäre ja noch was! Leider erfahre ich, dass die Schlachtung und der Abtransport des Eierproduzenten in den heimischen Suppentopf nach einem Jahr im Mietpreis inbegriffen  ist. Was ist das denn? Nur, weil die armen Viecher während der Mauser nicht regelmäßig legen, scheint der eierliebende Endverbraucher die Geduld zu verlieren und braucht ein neues Huhn. Nee, das ist nichts für mich. Aber vielleicht kann man Menschen finden, die mit mir eine Wiese pachten, um eine ähnliche Hühneridylle wie diese hier zu schaffen:

Der ganze Ort Wolfgarten ist eine einzige Idylle.

Hier ist alles so sauber und proper und es gibt Pflastersteine und Wegkreuze und liebevoll gestaltete Vorgärten und Fachwerk und Bruchsteinhäuser. Ich gerate innerlich ins Schwärmen und komme im nächsten Waldstück auf die Kehrseite der Idylle. Nichts ist, wie es scheint. Hohlköpfe gibt es überall, und hier machen sie sich breit:

Zum Glück lassen die Schilder sich leicht abkratzen. Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Aber der Wald ist viel zu schön, um sich schlecht zu fühlen.

Und Regentropfen fallen erst auf der allerletzten Etappe, aber da retten mich der inzwischen geöffnete Info-Punkt mit seiner freundlichen Informantin und den sehr hübschen dort käuflich zu erwerbenden weihnachtlichen Wald-Dekorationsstückchen. Ich kann nicht widerstehen. Die Zivilisation hat mich wieder.

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Wanderung Nummer 6: Durch die Teverener Heide

Oder: Alte Heimat-Route Eins

Die Wettervorhersage ist grottenschlecht: Regen, Schauer, 13 Grad, keine Spur vom „Goldenen Oktober“. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, den Sonntag drinnen zu verbringen. Drinnen bedeutet: ein Buch lesen („Der Pfau“ von Isabel Bogdan), hinterm Laptop verschwinden und irgendwann für die Schule arbeiten. Dabei habe ich das gestern schon getan, um heute wanderfrei zu haben. Außerdem habe ich mir gestern ein Auto gebucht, für halb elf.

Ich wache gegen sieben auf und es regnet. Ich bemühe meine „Wetter-App“, die eigentlich nur dann zuverlässig funktioniert, wenn sie das Wetter ansagt, das ich auch vom Fenster aus mit eigenen Augen erkennen kann. Angeblich hört es gleich auf zu regnen und ist dann bis zwei Uhr trocken. Okay. Aufstehen, Auto umbuchen, Rucksack packen, los!

Ich werde es nicht bereuen.

Mit Hilfe von Herrn Google finde ich den Weg, lande aber auf den letzten Metern an einem anderen Wandererparkplatz als angedacht. Die Tourbeschreibung – es ist Tour 3 der „Auf geht’s“-Zeitungswanderrouten – legt aber drei mögliche Startpunkte fest, sodass ich genauso gut vom „Parkplatz Scherpenseel“ aus loswandern kann und als erstes Highlight die „Scherpenseeler Denne“ entdecke. Hier hat sich die Natur eine riesige Sandgrube zurückerobert und ich erfahre anhand einer Infotafel, dass sich hier 120 Wildbienenarten zu Hause fühlen. Auch ich fühle mich hier zu Hause, es ist trocken, jedenfalls von oben, mein Blick schweift über das sandige Heidegebiet und ich kann mir vorstellen, dass es hier bei Sonnenschein ganz schön heiß werden kann. Als Winterkind sind mir der Regen, der feuchte Modergeruch,  die Pfützen auf dem gut ausgebauten Weg fast lieber. Ich bin – wie soll ich es sagen – schlagartig vergnügt und sehr zufrieden mit der Entscheidung, das warme Bett und mein Zuhause früh verlassen zu haben.

Das haben allerdings auch andere Menschen getan. Auf dieser Route treffe ich deutlich mehr Spaziergänger, Radfahrer, Wanderer, Jogger als auf den bisherigen Touren. Das liegt vielleicht daran, dass das regenzeitlose Fenster nur vier Stunden dauern soll, vielleicht aber auch daran, dass sich die Tour insgesamt eher als Spaziergang entpuppt denn als Wanderung. Es ist trotzdem schön. Sehr sogar. Ich komme vorbei an kleinen Teichen und größeren „Tonseen“, an Heidekraut und Birken, an weißen, gelben, braunen und roten Pilzen. Ich glaube, dass ich in den letzten sechs Wochen insgesamt mehr Pilze gesehen habe als in den 20 Jahren zuvor.

 

Neben deutlich mehr Mitmenschen treffe ich auch deutlich mehr Hunde. Mehr Ziegen. Mehr Schafe. Schon wieder fühle ich mich an meine Kinderzeit auf dem Dorf erinnert: Es war immer wieder spannend, den „In-den-Stall-Trieb“ der Kuherde unseres bäuerlichen Nachbarn zu beobachten. Dem Muhen zuzuhören. Die Kuhfladen auf der Straße dampfen zu sehen. Hier und heute blökt und meckert es und es riecht streng nach Schafs- und Ziegenfell.

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Aber die Idylle trügt. Die „Tonseen“ sind ursprüngliche Naturwunden, die – seit den Neunzigern sich selbst überlassen – nun  Zwergtauchern und Libellen als Lebensraum dienen. Mir kommt das gigantische Loch des Braunkohletagebaus in den Sinn. Eine riesige Wunde, die vielleicht Generationen von Wanderern nach mir als Naturschutzgebiet präsentiert werden wird. Wie wird sich die Natur dort ihren Weg bahnen?

Der Weg durch die Heide ist mit gelben Wegstreifen gut gekennzeichnet. Ich verlaufe mich kein einziges Mal. Nachdem ich am „Parkplatz Hohenbusch“ vorbei an Lösch- und Fischteichen gewandert bin, komme ich an  einem weiteren Stück trügerischer Idylle vorbei. Rechts neben mir säumen Bäume, Moos, Pfützen den sandigen Weg,  links ein großer grüner Stacheldraht-bewehrter Zaun. Er trennt die NATO-Airbase vom Rest der Heide ab, und auch, wenn man von der Base selbst kaum etwas sieht oder hört, ist es seltsam unpassend.

Ein langes Wegstück begleitet mich dieser Zaun. Dann macht mich eine rote Hinweistafel auf den „Wiggelewak“ aufmerksam und ich lerne, dass es sich dabei um ein Moor handelt, das sowohl vom Grundwasser als auch vom Regenwasser gespeist wird und so empfindlich ist, dass es nicht einmal Trittspuren verzeiht. Überhaupt sind die Hinweistafeln hier schön geschrieben und informativ, sodass ich Lust habe, sie zu lesen. Das ist nicht immer so.

Irgendwann verlasse ich den Zaun, die Air-Base, den Wald, treffe am Waldrand auf einen Reiter und folge eine Zeitlang der eleganten Bewegung eines fuchsbraunen Pferdehinterns. Wieder im Wald laufe ich vorbei an riesigen, auch schon braun gefärbten Farnen und finde das „Grotenrather Püttchen“. Hier erfahre ich, dass es sich um eine ehemalige Quelle handelt, zu der man früher das Vieh getrieben hat, die aber durch den Sand- und Kiesabbau der neunziger Jahre versiegt ist. Man kann nur noch vage erahnen, dass der „Pütt“ ein Brunnen war. Und dann bin ich auch schon am Ende meiner Wanderung, die trotz einer Picknickpause nur knapp zweieinhalb Stunden gedauert hat. Ich fand’s schön, werde vielleicht im Winter noch einmal zurückkommen, wenn die riesigen rotbraunen Farne endgültig am Boden liegen, die kleinen Teiche und Seen gefroren sind, vielleicht sogar Schnee unter meinen Wanderschuhen knirscht. Ich fand’s schön, trotz der NATO-Air-Base und trotz der Hinterlassenschaften umweltdummer Mitmenschen, die Plastikflaschen und Tempo-Tücher-Verpackungen und Bonbonpapierchen und Blondinen auf dem sandigen Heideweg vergessen haben.

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Hiking, Wandern, Unterwegs sein

Wanderung Nummer 4: Die Getzbach-Route

Schon nach drei Wanderungen merke ich: Die Routen der Aachener Zeitung sind mir nicht mehr genug. Ich will mehr. Mehr Wald. Mehr Ruhe. Mehr Natur. Mehr Moor.

„Haus Ternell“ scheint mir hierfür der geeignete Startpunkt zu sein. Ich behaupte, dass fast jeder Aachener meiner Generation diesen Namen schon einmal gehört hat. „Haus Ternell“ steht irgendwie für das „Hohe Venn“, steht für die Landschaft, bei deren Erwähnung ich jahrelang eher zusammengezuckt bin und freundliche Ausreden gesucht  und gefunden habe: „Sollen wir einen Spaziergang machen? Vielleicht durch’s Hohe Venn?“

Jetzt aber, mit dem in vier Kanada-Sommern gewachsenen Sinn für’s Draußensein, mit der Überlegung, was im Leben wichtig ist und was nicht, mit dem Gedanken, was ich denn heute noch tun würde, wenn es mein letzter Tag wäre, klingt das „Hohe Venn“ nach augen- und ohrenfreundlicher Umgebung, nach Waldduft, nach an meinen neuen Wanderschuhen saugenden schlürfenden und matschenden und moorigen Wasserlachen. Im Matsch spielen gehört nicht zu meinen prägendsten Kindheitserinnerungen. Wohl aber die: Ich lande mit einem bis dahin weißbestrumpften Bein in einer Öltonne. Und stecke vor Schreck das andere Bein auch noch rein. Wer A sagt, muss auch B sagen. Entsetzen, Verstecken, sinnlose Waschversuche, ungläubige Blicke meiner Eltern. Gab’s Prügel? Lachanfälle? Ich weiß es nicht mehr.

Jetzt also das Moor. Dieses Mal muss für die Anreise wieder das „Cambio“-Auto herhalten. Am Ende wird mich diese Wanderung ungefähr 20,- € kosten – aber besser konnte ich meinen Sonntag nicht verbringen!

Fast schon routiniert packe ich meinen blauen Rucksack, drucke meine Google-Anreise aus, lade mir die „Getzbach-Route“ als Offline-Karte aus der „Komoot-App“ auf meinen iPod und fahre los. Startpunkt der Reise ist das bereits erwähnte „Haus Ternell“, an dem ich vor vielen Jahren einmal gelandet bin, ganz bestimmt nicht aus eigenem Antrieb, und das über einen Parkplatz verfügt, der proppenvoll ist, denn: Hier kann man auch essen! Meine Erfahrung lehrt mich, meinen Startpunkt nicht eigenmächtig zu verlegen, zumal ein schneller Blick auf meine Offline-Karte und auf mein Handy mir klarmachen, dass ich mich hier erneut auf mich selbst und diverse Hinweisschilder verlassen muss. Die Aussage der auch hier freundlichen Info-Center-Dame „Da hinten, an der Tafel mit der Wanderkarte, funktioniert das GPS wieder“ trifft für mich und meine Gerätschaften nicht zu. Irgendwas mache ich falsch.

Ich suche mir also eine Parkmöglichkeit irgendwo an einer Waldeinfahrt, hoffe, dass mein Auto nicht zu tief im weichen Lehmboden versinkt und gehe unter Einsatz meines Lebens – die Straßenstrecke ist so marode, dass ein Spaßvogel ein Schild mit dem Titel  „Highway to hell“ aufgestellt hat, und die häufig deutschen Autofahrer verstehen das  offenbar als Einladung zum Rasen – zum Startpunkt zurück, um mit der freundlichen Wanderführerin zu besprechen, worauf ich achten muss. Sie drückt mir – überzeugt von meinen Fähigkeiten, mich damit zurechtzufinden – eine Wanderkarte in die Hand, warnt mich vor dem ersten Stück des Weges bis runter zum Getzbach – „Danach ist der Weg gut ausgebaut und ganz einfach zu laufen“ – und hofft, mich vor Schließung des Info-Lokals wiederzusehen. Das wird nicht klappen. Ich werde für diese Strecke viel länger brauchen als die angegebenen dreieinhalb Stunden. Wegen meiner leckeren Picknick-Sachen, wegen des zu schnuppernden Wald-Duftes, wegen der machmal fehlenden Hinweisschilder – dieses Mal muss ich auf ein grünes Kreuz  +  achten – und der daraus resultierenden Umwege.  Gegen sechs Uhr werde ich unruhig werden, in die falsche Richtung laufen – weit und breit kein grünes Kreuz auf weißem Grund, dafür aber ein großer grüner irreführender Pfeil – mich fragen, wie ich ohne funktionierendes Handy nach einer Waldnacht morgen früh mein Nicht-Erscheinen in der Schule erklären soll – und auf ein junges Paar treffen, das mich auf Englisch darüber aufklärt, dass „House Töörnell“ da hinten um die Ecke liegt. Ich erinnere mich an den Struffelt-Stein. 😂 Und stelle fest: Ich muss wieder lernen, mich auf meine Ohren zu verlassen. Der „Highway to hell“ ist ziemlich deutlich hörbar.

Der Abstieg ins Getzbach-Tal erweist sich als glitschig, matschig, rutschig. Leider liegt hier kein Ast am Wegesrand, auf dem ich mich abstützen könnte. Ich schaffe den Abstieg, der länger ist als vorher vermutet, ohne mir Hals und Beine zu brechen und auch, ohne im Matsch zu landen. Neben dem Plätschergeräusch des Baches höre ich muntere Unterhaltungen mehrerer Wandererkollegien, die mich beunruhigen: Sollte dies hier die Hauptstrecke der sonntäglichen Venn-Fans sein? Muss ich etwa die Natur mit Haufen von Aachenern teilen, die sich wie ich nach Ruhe sehnen, gefährliche Rutschpartien in Kauf nehmen und dann statt dem Blätterrauschen zu lauschen unfreiwillige Teilhaber tief schürfender Gespräche über Sinn und Zweck der Briefwahl für Wanderer werden? Wird Martin Schulz neuer Bundeskanzler? Sollte auch ich das nächste Mal Briefwahl beantragen, um rechtzeitiger auf der Wanderstrecke zu sein und drohendem Verirrungs-Dunkel im belgischen Venn besser vorbeugen zu können? Wann kaufe ich mir Wanderstöcke?

Ich lande am Getzbach. Sehe einen grünen Pfeil auf weißem Grund. Finde beides auf der Wanderkarte. Wende mich nach links. Ein gut ausgebauter Weg. Für mich allein. Beruhigendes Bachplätschern. Zeit für die ersten blauen Trauben.

 

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Die „Getzbach-Route“ führt mich am Bach vorbei, durch Buchenwälder, hügelauf, hügelab, über breite helle Wege, dunkle rutschige Pfädchen, über kleine Brücken, Stolpersteine, glitschige Wurzeln und herumliegende Äste, von denen ich mir den ein oder anderen greifen muss, um eine Stütze zu haben. Kurzum: Ich finde die Route nicht ganz so bequem, wie mir die Wanderführerin suggeriert hatte. Das liegt sicher an unseren unterschiedlichen Wander-Erfahrungen. Der Weg ist schön. Abwechslungsreich.    Anstrengend. Zumindest für mich. Es ist wenig los. Bis auf eine deutsche Familie und eine Englisch sprechende Gruppe junger Leute begegne ich niemandem mehr. Der überwiegende Teil führt durch den Wald. Lange laufe ich am Getzbach entlang, irgendwann durch offenere Wiesen- und Heidelandschaft.

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Ich treffe auf fette rote Fliegenpilze, die in den Büchern meiner Kindheit als gefährlich giftig beschrieben wurden, und die ich bisher sehr selten „in echt“ gesehen habe. Überhaupt scheint es ein Pilzjahr zu sein. Selbst meinem ungeübten Auge fallen die vielen verschiedenen Pilzsorten auf, die aus totem Holz sprießen, am Wegesrand stehen, unter braunem Laub hervorlugen. Nicht selten finde ich einen Steinpilz. Oder das, was ich dafür halte. Meine Hand ins Feuer legen würde ich dafür nicht.

 

Gegen Ende des Weges treffe ich auf den Ternell-Bach. So sagt jedenfalls die Karte, die ich dann doch bemühen muss. Schilder mit grünem Kreuz? Mangelware. Irgendwann wird auch klar, warum: Ich habe mich verlaufen. Und da ich spät losgegangen bin an diesem Wahlsonntag, wird es irgendwie auch schon dunkler im dunklen Wald. Zurück zur falschen Abbiegung. Den anderen Weg. Da hoch? Okay. Erleichterung am nächsten grünen Kreuz.

Der Rest des Weges ist Geschichte. Siehe weiter oben. Das Ergebnis des Wahlsonntags auch. Kurz nach Schließung der Wahllokale schließe ich die Tür meines Cambio-Autos auf. Drücke auf den Radio-Knopf. Angie und Martin haben herbe verloren. Martin ist sauer. Angie muss nach Jamaika. Und ich nach Hause. Die AFD wird sich selbst zerfleischen. Die Welt wird nicht untergehen. Der Wald wacht weiter über seine Wanderer.

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