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Wanderung Nummer 21 – Zur Ölmühle

Immer noch laufe ich zu lange in die falsche Richtung. Immer noch halte ich den Weg, den ich eingeschlagen habe – trotz der aufgekommenen Zweifel – für den, der ein ganzes Stück gegangen werden muss, um ihm eine Chance zu geben. Lernen kann äußerst schmerzhaft sein. Vielleicht sollte ich „Ölmühle“ als Synonym für „Umkehr“ in meinem aktiven Wortschatz verankern.

Dabei fängt alles so gut an. Ich finde sogar den Ort „Eicherscheid“ auf Anhieb, von dem aus der Rundweg Nummer 47 startet. Unterwegs fahre ich durch wunderschöne Winterlandschaft, so traumhaft, dass ich am liebsten mehrfach anhalten und erste Bilder machen möchte. Die Sonne scheint, alles ist strahlend weiß. Unschuldiger kann sich ein Weg, eine Landschaft, kaum präsentieren.

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Der Schnee ist zwar von gestern, und vor mir waren auch schon andere Winterwanderer unterwegs, aber er knirscht eisig unter meinen Schuhen und so manche Wegeskuhle, in der in den letzten Wochen das Wasser schwamm, ist tiefgefroren und mit Puderzucker bestäubt. Ich gehe drumherum, um die Mini-Eisflächen nicht zu zerstören.

Der Ölmühlenweg ist vergleichsweise kurz, nur knapp 10 Kilometer will ich heute laufen. Ich trage stolz mein neues Fernglas bei mir, ein Geschenk meiner Kinder zum Geburtstag, das erste meines Lebens. Leider ist das erste Tier, ein Reh, so schnell, dass ich nicht reagieren kann. Das zweite, ein Fuchs, ist hingegen so nah, dass ich das Fernglas nicht brauche.

An manchen Stellen sind die Wegweiser verwirrend, zeigen in zwei Richtungen, während ich aus der dritten auftauche. Viele Wege führen nach Rom, und so treffe ich meistens die richtige Entscheidung. Meistens.

Die Sonne gibt ihr Bestes, aber die Minusgrade kann sie nicht ins Plus verkehren. Das macht nichts. Ich knirsche frohgemut vor mich hin, unterwegs werde ich gefühlte fünf Mitmenschen treffen, die es mir gleich tun. In Kanada staunt man immer über die 80 Millionen Deutschen, die sich ein vergleichsweise winziges Land teilen. Wo sind die alle? Das frage ich mich eigentlich jedes Mal, wenn ich unterwegs bin. Hier sind sie jedenfalls nicht, und wie immer bin ich sehr froh darüber.

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Eicherscheid ist ein hübsches Dorf, schon mehrfach gab es Schönheits-Preise. Es gibt gut gepflegte Fachwerkhäuser und viele viele typische Eifel-Hecken, die dem Wind trotzen. Auch außerhalb des Ortes sind sie anzutreffen, und am Ende meiner Wanderung erfahre ich, dass die Dorfleute darum gekämpft haben, sie zu erhalten: Durch Vererben von Landflächen wurden diese immer weiter aufgeteilt und die Hecken als Begrenzung zeigen deutlich, wem welches Stück Land gehört. Die immer größer gewordenen Maschinen, die statt der Menschen heute üblicherweise die Ländereien beackern, können hier nichts ausrichten.  Aber die Eicherscheider haben entschieden: Die Hecken bleiben, das Land wird anders genutzt.

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Ich glaube, den „Flurheckenweg“, den ich hier nur streife, werde ich zu einer meiner Sommerwanderungen machen.

Weil es so kalt ist heute, hole ich mein pinkfarbenes Lieblingsgerät nicht ganz so oft aus der Tasche. Dennoch habe ich am Ende über 100 Bilder geschossen, denn der Weg ist einer der schönsten, die ich bisher gegangen bin. Natürlich liegt das auch am Schnee. Ich werde mich an diesen Winter als einen schneereichen erinnern. Ganz im Gegensatz zu meinen Freunden, die erst in den letzten Tagen in den Genuss weißer Tage gekommen sind. Aachen friert.

Die Ölmühle – das wird mir klar, als ich dran vorbei laufe, liegt nicht zum ersten Mal an meinem Wegesrand. Auch, wenn ich mich an viele Wanderungen deutlich erinnere, muss ich erst nachforschen, bei welcher Gelegenheit ich denn hier vorbeigekommen bin. Fündig werde ich beim „Zwei-Täler-Weg“. Ein Ölmühlenbild habe ich damals nicht gemacht, ebenso wenig wie heute. Aber ein Foto vom Holzkreuz vor dem Ölmühlenwohnhaus. Heute bevorzuge ich die Eule als Motiv. Holzkreuze habe ich schon genug.

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Vorher aber treffe ich eine schmerzhafte Fehlentscheidung. An einer Weggabelung fehlt das 47er-Schild und ich laufe statt in den Wald hinein eine kleine Straße hoch. Es plätschert am linken Wegesrand. Oben, am höchsten Punkt, finde ich ein Forsthaus vor – Pucki lässt grüßen – und erst am Schild mit der Information „Kein Winterdienst“ – ja, das hatte ich durchaus schon bemerkt – kehre ich um. Die Straße hat ungefähr 16 Prozent Gefälle, und während ich noch darüber nachdenke, wie es wohl wäre, hier zu wohnen und mich gerade für den Kauf eines Jeeps entschieden habe, spüre ich das 16prozentige Gefälle auch schon deutlich an meinem Steißbein. Ich kann nicht mal „Scheiße“ denken, so schnell sitze ich Knochen auf Eis.  Das Ganze ist fünf Tage her und ich schreibe im Stehen. Muss ich mehr erzählen?

Als ich mich von meinem Schreck – nicht von meinem Schmerz – erholt habe, probiere ich auf „offener Straße“ aus, ob alle meine Knochen am rechten Platz sitzen. Ich gehe auf die Knie – trotz gerade fehlenden Holzkreuzes – mache in Eis und Schnee den Yoga-Katzenbuckel und die „Stellung des Kindes“ und bin wechselweise erleichtert und enttäuscht, dass niemand vorbeikommt, um mich aufzurichten. Irgendwie schaffe ich es, wieder auf die Beine zu kommen. Lautes Jammern nutzt nichts und deshalb fluche ich leise vor mich hin. Aber ein Foto vom Absturzort kann ich mir nicht verkneifen.

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Jeder Schritt tut höllisch weh und ich weiß, dass es mangels Kühlpack am sinnvollsten wäre, blankzuziehen und mein Steißbein in den Schnee zu setzen. Da ich die Frage, wie ich wieder hochkommen soll, nicht beantworten kann, lasse ich es bleiben und wandere weiter – mit Trippelschritten,  wie eine alte Chinesin.

Im weiteren Verlauf des Weges, auf dem mir ziemlich kalt wird, weil ich nicht schnell genug unterwegs bin, wird mir klar, dass es mich weitaus schlimmer hätte treffen können. Der kleine Fuchs, dem ich begegne, sollte mir eine Warnung sein: Es wäre möglicherweise sinnvoll, einsame Wanderungen mit Nummernangabe in meinem Freundeskreis kundzutun. Als tiefgefrorene Wanderseniorin möchte ich jedenfalls nicht enden.

Ich entscheide mich dafür, das Glas als halbvoll zu betrachten – schließlich hätte ich mir durchaus auch ein Bein brechen oder mir schon früh in meinem Leben den berühmten Oberschenkelhalsbruch zuziehen können – und trippele weiter, wohl wissend, dass ich noch fast die Hälfte des Weges vor mir habe. Super Jungs muntern mich auf, obwohl ich Graffiti im Wald eigentlich nicht mag.

Der heutige Hüttenspruch bedarf einer Interpretation. Ich bin noch unschlüssig, ob ich für mich beanspruchen sollte, dass er etwas mit meinem Steißbein zu tun haben könnte.

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Ich weiß, ich würde diesen Weg genießen, wenn ich in normaler körperlicher Verfassung wäre. Vermutlich ist das ein Zeichen: Er will noch einmal gegangen werden. Ohne jedes Gefälle.

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Und so verabschiede ich mich, gemeinsam mit der Sonne. Wir werden wiederkommen.