Dies ist tatsächlich die erste Wanderung, bei der ich mich nicht verlaufe.
Als ich um viertel nach Acht in den Bus „SB63“ steige, werde ich vom Busfahrer schon wie eine alte Freundin begrüßt. Es nieselt und der Tag sieht grau aus. Der Bus ist fast leer. Außer mir scheint niemand aus dem Bett gekommen zu sein. Ich bin frohen Mutes, das Wetter soll mir keinen Strich durch die Wanderrechnung machen.
Auf der Seite „www.ich-geh-wandern.de“ habe die für heute geplante Wanderung ab Einruhr entdeckt. Sie führt über die „Wüstung Wollseifen“ zur Staumauer der Urft und von da aus wieder zurück nach Einruhr. Insgesamt will ich etwa 16 Kilometer laufen, das ist für mich schon eine ganz schöne Strecke.
Von der Bushalte aus gehe ich noch ein Stückchen in den Ort hinein und finde gegenüber dem „Heilsteinhaus“ ein hölzernes Schild mit der Aufschrift „Wanderweg Wollseifen“. Hier bin ich richtig.

Schnell führt der Weg aus dem Ort raus in ein Waldgebiet. Jede Menge Bänke zeugen davon, dass hier an sonnigen Tagen vermutlich mehr los ist als heute. Das Nieseln geht in leichten Regen über, ich habe schon Hunger, bevor ich richtig losgegangen bin. Also hole ich meinen Schirm und meinen Trauben-Käse-Proviant aus dem Rucksack, um für den weiteren Weg gerüstet zu sein. Ich denke darüber nach, was ich gestern bei Henning Mankell gelesen habe. Er sucht in seinem Buch „Treibsand“ nach Augenblicken in seinem Leben, in denen er große Freude empfunden hat. Er selbst kann sogar einen Augenblick benennen, der „jede andere Freude übertraf“. Aber er spricht auch davon, dass man keine Rangfolge freudiger Momente aufstellen kann.
Ich habe auf den Wanderungen der letzten Sonntage immer wieder Augenblicke der Freude erlebt. Meist waren das die Momente, die mir ein „Guck dir das an!“ oder „Unglaublich!“ entlockt haben. Bei dieser Wanderung passiert der freudige Moment, als ich die „Dreiborner Hochfläche“ erreiche, die ich auch letzte Woche schon gestreift habe, allerdings von der anderen Seite. Auch hier lese ich zuvor die Warnschilder, die eindringlich von den Gefahren durch liegengebliebene Munition abseits der Wege sprechen. Ehemaliges Truppenübungsgebiet. Aber die Pipipause kann ich unmöglich auf dem ausgewiesenen Weg machen. Ab ins Gebüsch. Ich gehe mal davon aus, dass nichts unter meinen Wanderschuhen explodieren wird.

Lebend und deutlich erleichtert komme ich wieder raus. Und treffe ein paar Meter weiter auf die Hochebene. Unglaublich! Hier wächst kein Heidekraut, aber die Ebene ist voll mit Ginsterbüschen. Jetzt sind sie dunkelgrün und nass, das Gras ist beigebraun verwelkt. Der Himmel ist wolkenverhangen, nur wenige blaue Flecken. Es weht und pustet. Meinen Schirm brauch ich nicht, die Kapuze reicht. Wie mag es hier wohl im Juni aussehen? Gelb. Gelb. Hellgrün. Gelb. Voller Menschen? Gut möglich. Der schmale Weg schlängelt sich weit sichtbar durch die Hochebene. Vor mir in gebührendem Abstand eine bunte Wanderergruppe. Weit genug weg. Ich höre sie nicht. Das ist gut. Menschliche Geräusche erscheinen mir mitten in so viel Natur oftmals völlig unpassend. Sie klingen nicht. Stören. Gehören hier nicht hin. Aber der Wind, der heute hoch oben in den Baumwipfeln weht, das zarte Fiepen der Meisen, das passt. Es erinnert mich an andere Augenblicke großer Freude. Die habe ich empfunden, wenn ich vor vielen Jahren am ersten Morgen als Karnevalsflüchtling im Sauerland aufwachte, das Fenster offen, die Geräusche gedämpft vom Schnee – und vier ganze Tage vor mir, in denen ich dem Alltag mehr entfliehen konnte als auf manchem sommerlichen Italien-Urlaub. Wenige, kostbare Tage, das Schlafengehen hinausgezögert, um die Zeit zu verlängern.
Die „Dreiborner Hochfläche“ scheint riesig zu sein. Auf einem großen Stein am Wegesrand liegt ein rostiges Ding, das irgendwie nach Munitionshülse aussieht. Ohne nachzudenken schubse ich das Ding runter. Upps. Fast erwarte ich einen Knall, eine Explosion. Meine Fantasie geht mit mir durch. Das also sind die gefährlichen Überbleibsel aus der belgisch-britischen Zeit. Weitergehen. Die bunte Wandertruppe ist aus meinem Blickfeld verschwunden. Aber als ich die „Wüstung Wollseifen“ erreiche, treffe ich sie wieder. Sie haben das ehemalige Dorf schon durchstreift.

Am Dorfrand entdecke ich auf der linken Seite einen Bunker. Kindheitserinnerungen. Zwanzig Jahre nach Kriegsende gab es immer noch Bunker mitten auf den Feldern zwischen den Dörfern. Mein Vater und Sprengmeister Paul Schweda jagten sie in die Luft. Bohrten nach einem wohl überlegten Muster Löcher in den Beton. Füllten die Bohrlöcher mit Sprengstoff und Sandröllchen, die verhindern sollten, dass der Sprengstoff aus den Löchern wieder rausflog. In meiner Erinnerung durchstreifen wir Kinder die Bunker, wohlige Schauer des Schreckens begleiten unser Versteckspiel. Die Sprengung beobachten wir aus sicherer Entfernung. Weniger aufregend war das Aufsammeln der zu weit geflogenen Betonbrocken. Dieser Wollseifen-Bunker sieht sehr einladend aus. Aber da sind die Verbotsschilder und die Wandergruppe und mein verloren gegangener Mut.
Die „Wüstung Wollseifen“ lässt sich übersetzen mit „Dorf in der Senke“. Das fasse ich hier mal abenteuerlich aus den verschiedenen Informationstafeln zusammen, die ich im Dorf finde. Weit über tausend Jahre ist es her, dass dieses Dorf zum ersten Mal in den „Kirchenbüchern“ auftauchte. Ich sehe Fotos von gleichermaßen entbehrungsreichen wie freundlichen Zeiten. Jungen mit kurz geschorenen Haaren, Mädchen mit weißen Kittelschürzen und Schleifen im Haar. Kommunionskinder vor der Kirche. Schulklassen vor der „Katholischen Volksschule“. Der Lehrer links, das „Fräulein“ rechts. Ähnliche Bilder liegen in Zigarrenkisten im Keller meines Elternhauses. Immer wieder kommt mir der Gedanke, sie zu sichten, zu ordnen, für die Nachwelt aufzubereiten.
Die Fotos finde ich im Gebäude der ehemaligen Dorfschule. Es ist neben der Kirche das einzige Dorfgebäude, das noch steht. Die anderen Häuser rund um den Kirchplatz sind mit Hausnummern versehene Rohbauten, die unteren Fenster sind zubetoniert. Der Wind pfeift gespenstisch um die Ecken dieser Häuser, die zu betreten noch strenger verboten als verboten ist. Ich stelle mir vor, wie ich das Verbot übertrete, in eines der Häuser eindringe, die doch ein idealer Zufluchtsort für Gestrandete sein könnten. Wer lebt hinter diesen Mauern, hinter denen nie jemand leben sollte? Wer hat sich häuslich eingerichtet und kommt am Abend, wenn die Wanderer und Biker längst verschwunden sind, aus seinem besetzen Haus auf den Dorfplatz? Wer zündet in der alten Kirche ein rot flackerndes Lebenslicht an?
Die rohen Häuser wurden von den Belgiern gebaut. Die Dorfbewohner, die Ende des 2. Weltkriegs ihr Dorf verlassen mussten, nach dem Krieg aber zurückgekehrt waren, wurden ein Jahr später innerhalb von drei Wochen von der britischen Siegermacht vertrieben und über die umliegenden Ortschaften verteilt. Sie krochen bei Verwandten und Freunden unter, erneut heimatlos geworden, nachdem sie den Krieg irgendwie überlebt hatten. Britische und später belgische Soldaten nutzten das Dorf als Truppenübungsplatz, die Rohbauten, um den Häuserkampf zu proben.
Diese „Wüstung“ ist ein Dorf, dem nicht nur der Schrecken des zweiten Weltkriegs innewohnt, sondern auch die Ängste der kalten Nachkriegszeit. Obwohl das Wort „Wüstung“ nichts zu tun hat mit „wüst“ sein, roh sein, unbarmherzig sein, klingt es gewalttätig und passt somit entsetzlich gut zum gespenstischen Eindruck, den dieses Dorf hinterlässt. Ein Halloween-Ort. Die Toten wurden nach dem Brand der Kirche im Jahr 1955 umgebettet.


Mit einem letzten Blick auf den Bunker lasse ich das Dorf hinter mir. Ab jetzt führen mich die Schilder in Richtung Urftstaumauer. Ein paar hundert Meter weiter sehe ich an der rechten Seite, auf einem der nächsten Hügel, die „Ordensburg Vogelsang“. Ich hatte keine Ahnung davon, dass sie so nah ist. Ein- bis zweimal war ich an diesem geschichtsträchtigen, unrühmlichen, nationalsozialistischen Ort, und ich habe mir vorgenommen, auf einer meiner nächsten Wanderungen dort zu landen und mir nicht nur für die Natur Zeit zu nehmen.

Auf dem Weg zur Staumauer treffe ich nur sehr wenige Wanderer. Ich laufe durch Buchenwälder, ab und zu plätschert es neben mir. Ich sehe zwei Eichelhäher, die sich ins Tal stürzen, alte, umgestürzte, bemooste Baumstämme und irgendwann schimmert der See durch die Bäume. Der Blick vom kleinen Aussichtspunkt herunter ist in der Tat wunderschön, ein bisschen trüb heute, aber die gigantische Staumauer ist beeindruckend.


Ein weißes Schiff der „Rurseeflotte“ kommt in Sicht, hält vorschriftsmäßig an einem Steg und fährt dann wieder weiter. Niemand steigt aus, niemand steigt ein. Fast wirkt auch dieses Schiff gespenstisch, es ist völlig leer, nicht einmal ein Steuermann ist zu sehen.
Eine Zeit lang wandere ich am See vorbei, auf der linken Seite ein ums andere Mal schroffe Felsen, die in schönen Farben leuchten. Buchenblätter hinterlassen orangefarbene Teppiche auf dem Seewasser. Ich höre nur meine Schritte im Laub und das Tröpfeln des Regens, wenn der Wind die Baumkronen durchpustet. Von der Staumauer aus führen mich die Hinweisschilder wieder in Richtung Einruhr. Erstaunt stelle ich fest, dass die angeblichen 16 Kilometer mir leicht gefallen sind. Ich rechne die Angaben auf den Hinweisschildern zusammen: Von Einruhr bis Wollseifen etwa 6, von der Wüstung bis zur Staumauer etwa 5, dann noch mal 5 bis 6 Kilometer nach Einruhr. Okay, passt.
In Einruhr gönne ich mir einen heißen Kakao mit Sahne. Inzwischen gibt es hier das ein oder andere hübsche Lokal, wenn auch die nach altem Zigarettenrauch müffelnden Gaststätten meiner Kindheit noch in der Überhand sind. Vermutlich gibt es „draußen nur Kännchen“. Und auch auf meinem zweiten heißen Kakao, den ich mir in einer „richtigen“ Gaststätte gönne, weil der Bus erst eine Stunde später fährt, schwimmt kunstvoll aufgehäuft die Sprühsahne.
