. . . des Venn-Apostels“ – so jedenfalls lautet der merkwürdige Titel der „Zeitungs-Route 6,“ die ich heute gelaufen bin. Da die Tour aus dem Archiv der Aachener Zeitung stammt, vermute ich, dass sich ein Volontär, betraut mit der Aufgabe „Find doch mal eine gute Überschrift – du hast Zeit bis morgen früh!“ mit den vielen christlich geprägten Gebäuden und Hinweisen am Wegesrand auseinandergesetzt und nach dem Genuss von zwei bis drei Gläsern billigen Weißweins mit dem Ergebnis ins Bett gegangen ist. Als er es dann auf den Schreibtisch seines Redakteurs gelegt hat, hatte dieser keine Zeit zur Ergebniskorrektur. So wandele ich nun auf den Spuren ebendieses Apostels. Bisher kannte ich nur Judas und Co. Stephan ist ein Neuzugang für mich. Er war wohl Chef der Benediktinerabtei „Reichenstein“, die gerade von einem französischen Orden wieder aufgebaut wird.
Auch, wenn ich an dieser Stelle schon großspurig die Freuden grauer Wandertage gepriesen habe, bin ich froh über die Sonne, die – zuerst noch ganz verschämt – heute Morgen durch die Fenster scheint und meine Wohnung und mein Herz erwärmt. Damit die Nacht nicht ganz so kurz wurde, habe ich vorm Zubettgehen noch ein Auto gebucht. Unterwegs im Radio höre ich, dass die Sonne ☀️ heute „fast überall“ zu sehen sein wird. Ich fahre geradewegs in das „Fast“ hinein – hinter Roetgen steht eine Art dunkle Wand. Erst kurz vor Ende meiner Tour gibt die Sonne der Radiomoderatorin Recht – für höchstens fünf Minuten.
Mein Wanderweg beginnt in „Kalterherberg“ – und eigentlich kann man kaum etwas Anderes erwarten als Kälte und (Jugend)herbergen. Tatsächlich: Hier ist irgendwie die Zeit stehengeblieben. Es gibt noch Weihnachtsdeko und den Dorftannenbaum, und die Herberge, die ich am Ende meiner Spurenroute zwecks Bedürfnisbefriedigung aufsuche, riecht wie die Dorfkneipe meiner Jugend, in der ich an manchen Abenden einen „halben Liter Bier“ für meinen Vater holen musste. Der kleine, dicke Wirt, Herr C., hätte bei der „Me too“-Debatte einen herausragenden Platz eingenommen. Er ist schon lange tot. Das hat er nun davon. Vermutlich schmort er neben meinem aufgrund des gleichen Deliktes in die unterste Etage geschickten ebenfalls kleinen, dicken Großonkel Heinz, der alles begrapschte, was ihm unter die Finger kam. Es war diffus unangenehm, aber niemand dachte sich etwas dabei.
Beim Laufen wird mir klar, dass ich die Eifeltemperaturen immer noch unterschätze. Oder, besser gesagt: überschätze. Auch, wenn ich heute die ein oder andere Meise, meist Kohl-, selten Blau-, entdecke und einige robuste Pflänzchen die nächste Jahreszeit schon zaghaft ankündigen: Der Frühling ist noch weit. Gar nicht mehr weit ist Belgien 🇧🇪, das Land, mit dem wir uns das „Venn“ teilen. Und neben dem Weg, der später an der ziemlich turbulenten Rur entlang geht, ist das Stück durchs Venn wie so oft der schönste Abschnitt.
Vorher aber werfe ich noch einen Blick auf den „Ruitzhof“ – der irgendwie „deutsch“ ist, aber in Belgien liegt – und setze mich vorsichtig – arschkalt ist’s unterm Po – auf die äußerste Kante einer Bank, von der man einen wunderbar weiten Blick ins Tal und auf den nächsten Eifelhügel hat. Dort sehe ich von weitem den „Eifeldom“ – eigentlich St. Lambertus -, der äußerst imposant über Kalterherberg wacht. Immerhin, er steht noch. Was man vom „Immerather Dom“ nicht behaupten kann.
Der Weg, den ich heute laufe, hat viele Namen. Einer davon ist „Weg des Gedenkens“.
Mir ist nicht so ganz klar, wem ich hier gedenken soll, und so denke ich über die Pflanzen nach, die hier wachsen und ganz eindeutig den Wunsch haben, der Winter möge bald Geschichte sein. Eigentlich genial das Ganze. Die Lebensbedingungen sind schlecht, also zieht man sich zurück, bis es besser wird. Und dann kommt man wieder zum Vorschein. Geläutert und runderneuert und strahlender denn je.
Mein „Guck-dir-das-an“-Satz hat an dieser Stelle Gelegenheit, ausgerufen zu werden:
Ich klettere den „Richelsley“-Felsen hoch und stehe 31 Stufen höher unterm eisernen „Kreuz im Venn“. Schön ist es nicht. Aber „sechs Meter hoch und 1338 Kilogramm schwer“. Auf der Rückseite des Felsen geht es richtig katholisch weiter und – bis auf die letzte Zeile – stimmt neben dem Reim auch der Rhythmus.
Ein Stückchen geht’s noch durch den Wald, dann bin ich im Tal der Rur ohne „H“. Dem Wanderfaltblatt mit dem sperrigen Namen entnehme ich, dass die Rur 165 Kilometer lang ist, im „Hohen Venn“ entspringt und erstmal 15 Kilometer durch Belgien fließt.
Die Rur ist ziemlich wild heute, nach all den Regenfällen der letzten Wochen. Sie gurgelt und plätschert und schäumt vor Lebensfreude. Ich überquere eine wackelige, morsch wirkende Brücke und als ich meinen Blick vom Fluss lösen kann, sehe ich tatsächlich ein Stückchen blauen Himmel.
Mehr Farbe gibt’s nur im „Eifeldom“.