Was bleibt? Welche Erkenntnisse ziehe ich aus dieser Wanderung? Warum habe ich sie bisher nicht beschrieben?
Ganz einfach: Ich konnte sie nicht in Worte fassen.
Spätestens „rund um Roetgen“ habe ich verstanden, dass Wandern mehr bedeuten kann als wandern. Es bedeutet, nach außen und nach innen zu sehen. Das, was ich außen wahrnehme, halte ich immer mehr auch auf Bildern fest. Manchmal erinnern mich diese Bilder dann an die Innenansichten.
Meist macht das Laufen durch Wiesen und Wälder mir gute Laune. Sonst würde ich es wohl kaum tun. Manchmal schimpfe ich laut vor mich hin: Wenn ich ausrutsche, die Füße nur mühsam aus dem zähen Lehm ziehen kann oder eine Pfütze in Seegröße sich auf dem Weg breit macht und die Dichtigkeit meiner Wanderschuhe beim Durchwaten einem Stresstest unterworfen wird.
Oft bin ich erstaunt über sich plötzlich auftuende Aus- und Anblicke. Entzückte Ausrufe sind die Folge. Ich weiß inzwischen, dass „die Eifel“ zwar nicht Kanada ist – irgendwie fehlt das Meer und Englisch spricht man auch nicht – aber dennoch wunderschön. Anders. Aber genauso schön.
All das hat dazu geführt, dass ich – die Wanderverweigerin, die „Ach-du-lieber-Himmel-die-Sonne-scheint-hoffentlich-kommt-niemand-auf-die-Idee-spazieren-gehen-zu-wollen-Frau“ – jeden Sonntagmorgen ihren „Pöngel“ gepackt hat, um sich alleine auf den Weg in den Wald zu machen. Werde ich wunderlich? Baue ich mir demnächst ein Baumhaus und empfange Journalisten, die von meinem Einsiedler-Leben gehört haben, das ich dem alltäglichen Kampf gegen das Schulchaos vorgezogen habe? Ein reizvoller Gedanke. Aber ich bin ein Luxusweib. Ich brauche eine heiße Dusche und einen Fön. Ganz zu schweigen vom Computer.
„Rund um Roetgen“ beginnt in Roetgen. Genauer gesagt: auf einem der drei Wanderparkplätze des Ortes. Dieser hier liegt am Ortseingang nahe der Roetgen-Therme. Das Wetter ist hervorragend, die Busse fahren noch regelmäßig, die Tage sind noch länger als die Nächte. Der Artikel mit der Wanderwegbeschreibung liegt ausgeschnitten im richtigen Rucksackfach. Es ist ein Rundweg, ein Stückchen „Eifelsteig“, ein Stückchen Venn, ein Stückchen irgendwas. Ich traue ihn mir zu.
Wie immer versagen GPS und Wanderapp, weil ich immer noch nicht gelernt habe, wie ich damit umgehen muss, damit Beides eben nicht versagt. Die Woche vergeht mit Schulkram und ist oft so schnell vorbei, dass ich mich erst am Samstagabend frage, wohin denn die Reise gehen soll.
Ein Stückchen Ort, dann geht es in die mehr oder weniger freie Natur. Kühe, ältere Damen und Herren mit Hund oder Hündchen, asphaltierte Wege, der Blick nach Belgien, das Vor – und Zurück – ach, da ist das Schild! – alles wie gehabt, noch nichts Besonderes.
Es ist nicht ganz einfach, den Weg zu finden, mehrmals kehre ich um, frage Spaziergänger, und werde wieder auf die richtige Spur gesetzt. Ich muss mir keine Sorgen machen, der Tag hat früh angefangen und wird spät enden. Ich komme an eine Brücke, einen Bach, einen Picknickplatz, und weil ich will, dass ich mir meine gute Laune auch am Abend noch einmal ansehen kann, übe ich mich im Selfie-Schießen – keine leichte Übung für jemanden, dessen Arme zwar lang genug sind, dessen Augen aber nicht mehr so ganz klar sehen können. Es klappt. Bisschen pausbäckig zwar, aber da bin ich: gut gelaunt und noch mutig.
Ich verlaufe mich ein weiteres Mal. Und gelange hier zum ersten Mal zu der Erkenntnis, dass ich sehr sehr lange in die falsche Richtung laufe, bis ich umkehre. Liegt es daran, dass ich dem falschen Weg die Gelegenheit geben will, doch noch der richtige zu werden? Der Weg ist das Ziel? Klar, das stimmt natürlich, irgendwie. Beim Wandern allemal. Und mancher Weg ist einfach nur ein Umweg. Aber es wäre schon gut, am Tagesende auch das Weg-Ziel zu erreichen. Ohne „ist“. Die heimelige Jagdhütte mit dem Erdkeller, in dem man super gut Entführungsopfer zwischenlagern könnte, stand jedenfalls nicht auf dem Plan.
Ebenso wenig wie die Vertrauen erweckenden Warnschilder, die in einer Ecke der Hüttenveranda aufbewahrt werden.
Ich drehe um. Und treffe einen keuchenden, blauen Mountainbiker, der verständnisvoll nickt, als ich nach dem Weg frage. „Ich weiß genau, wo Sie sich verlaufen haben. Da fehlt das Eifelsteig-Schild.“ Beruhigend. Auf die Idee, dass jemand die Schildchen vom Baum abmontieren und als Souvenir in den Wanderrucksack stecken könnte, bin ich bisher nicht gekommen. Der blaue Biker erzählt mir dann die ebenfalls beruhigende Geschichte eines Familienvaters, den er vor einigen Jahren an der gleichen Stelle getroffen hat und der völlig verzweifelt versuchte, seine kleine Familie zum offenbar auf der belgischen Venn-Seite geparkten Auto zurückzubringen. Keine Chance vorm Dunkelwerden. Die ganze Familie habe schließlich bei ihm übernachten müssen, um die schlussendlich erfolgreiche Suche nach dem Auto am nächsten Morgen fortzusetzen.
Ich kriege leichte Schluckbeschwerden. Dann aber finde ich mit blauer Hilfe den Weg zum „Reinartzhof“ – oder vielmehr von dem, was davon übrig geblieben ist.
Dort setze ich mich auf eine der Bänke, studiere die Schilder, trinke einen Kaffee und blinzele in die Sonne. Es ist warm. Still. Friedlich.
Kurz hinterm „Reinartzhof“ beginnt das „Hohe Venn“. Das Gebiet, in dem die Entführungsopfer, die aus dem Erdkeller der düsteren Jagdhütte entfliehen konnten, zu Moorleichen werden. Jedenfalls, wenn sie den richtigen Weg nicht finden. Wenn die plätschernden Bäche auf der falschen Seite liegen. Die Wasserlachen neben den Stegen immer größer werden. Ebenso wie die Verunsicherung.
Was habe ich falsch gemacht? Wieso sind die anderen Wanderer auf der anderen Bachseite? Warum frage ich sie nicht? Wo ist die Brücke? Ich bin allein auf der falschen Seite. Im tiefen Gras ahne ich Liebespaare. Soll ich „Hallo? Ist da jemand?“ rufen? Möglicherweise auf Französisch? Je ne parle pas Francais, but can I speak English? Wie peinlich. Ein langes Stück offensichtlich falsche Richtung will zurückgegangen werden. Wo ist „zurück“? Wie anders sieht der vermeintlich bekannte Weg aus, wenn er von hinten aufgezäumt wird?
Ich gucke ganz souverän und gerate in Panik. Aber warum? Das weiß ich bis heute nicht. Es ist hell. Ich könnte rufen. Ich könnte zurücklaufen.
Stattdessen wate ich durch den Bach. Und erkenne, dass diese Entscheidung die richtige war. Obwohl in der Weg-ist-das-Ziel-Beschreibung nichts davon zu lesen ist. Einmal aufatmen, bitte.
Ich schlage mich durch dichtes Gestrüpp. Stolpere über dicke Wurzeln. Von einem entspannenden Wanderweg kann man hier nicht gerade sprechen. Vor mir stolpert ein mittelalterlicher Venn-Tourist. Wo kommt der denn her? Ich lasse ihm seinen Vorsprung. Von der Seite taucht ein Hundeführer auf. Allein bin ich nicht. Aber einsam. Unerklärlich verunsichert.
Endlich. Die Stelle, an der ich heute morgen den blauen Biker getroffen habe. Zumindest hier habe ich mir ein rundes Wegstück erlaufen. Und habe zum Glück die Erklärungen den weiteren Wanderweg betreffend noch im Kopf: Da hinten müssen Sie rein. Schwer zu erkennen, da verlaufen sich die meisten. Ich mich dieses Mal nicht.
Es geht durch ein Waldstück, an einem Bach vorbei, der immer breiter wird. Der ein oder andere Mountainbiker zieht seine Spurrillen. Irgendwo lagert eine große Familie neben dem Bach im tiefen Gras und picknickt. Offensichtlich gibt es viele Zugänge „rund um Roetgen“. Einmal stolpere ich und falle der Länge nach hin. Super. Niemand sieht mich. Im Wald fehlen die Schilder. Dann sind plötzlich zwei gleiche da. Ich stolpere weiter. Am Bach vorbei, der auf der richtigen Seite bleibt. Dann über die Brücke.
Hier ist es wirklich schön. Ziemlich urig, das Ganze. Wer hätte gedacht, dass rund um Roetgen das Abenteuer lockt. Eine etwa 70jährige Dame, ja, ganz klar, mit etwa gleichaltrigem Rauhaardackel kommt mir entgegen. Wir wechseln ein paar Worte, dann ist sie verschwunden. Und ich stehe vor einem Bach. Links ein hoher Felsen. Rechts ein Steilufer. Wie in aller Welt ist der Dackel hier rübergekommen? Ist die Frau in Wahrheit eine verkleidete Bergziege? Ich fass es nicht! Warum steht davon nichts in der Routenbeschreibung? Ich muss kraxeln. Der Felsen ist glitschig. Das fehlt mir noch, dass ich jetzt hier in den Bach plumpse. Ich hab nicht mal einen Dackel dabei, den ich mit einem gekritzelten Hilferuf am Halsband nach Roetgen schicken könnte.
Irgendwie schaffe ich es. Schwer atmend und vor Erleichterung fluchend bestehe ich die Bergprüfung.
Der Rest des Weges ist easy- peasy. Ich habe Stunden! gebraucht. Und drei Monate, um mich davon zu erholen und darüber schreiben zu können. Seitdem meide ich Wanderungen rund um Roetgen. Aber auf jeden Fall!!! werde ich im Frühjahr diesen Weg noch einmal gehen. Er hat sich mir tief ins Wanderer-Gedächtnis eingegraben. Vielleicht nehme ich einen Kompass mit. Und einen Dackel.