. . . oder: Auf der Suche nach der schwarzen Zwölf.
Ich wage es noch mal. Meine Sehnsucht nach Schnee und weihnachtlichen Wintergefühlen ist einfach zu groß. Möglicherweise wiederhole ich den immer gleichen Fehler, aber das wird mir in der Schule schließlich auf jeder Deutschheft-Seite konsequent vorgelebt. Ich kapere also einen Cambio-Fiesta und begebe mich – obwohl es anfängt zu schneien oder vielleicht auch gerade deshalb – zum zweiten Mal nach Lammersdorf, um die Tour mit der Nummer 12 komplett zu laufen. Und während ich über die Monschauer Straße raus aus der Stadt fahre, ändert die Welt ihre Unfarbe: Aus Dunkelgrau wird Hellgrau, aus Hellgrau wird Weiß. Eigentlich könnte ich das Auto sofort hier am Aachener Wald stehen lassen und los laufen. Denn auch hier ist Winter die vorherrschende Jahreszeit. Aber auch dieses Mal ist Selbsterkenntnis nicht der erste Weg zur Besserung: Einmal auf dem Holz-Weg, kehre ich nicht mehr um.
Im Nachhinein klopfe ich mir allerdings auf die Schulter: Als ich am Nachmittag die Monschauer Straße in umgekehrter Richtung fahre, ist die Welt rund um den Aachener Wald wieder dunkelgrau. Kein einziges weißes Fleckchen in Sicht. Was macht das schon? Ich habe bekommen, was ich wollte: einen schneeweißen Sonntag.
Und einen stillen dazu. Denn – natürlich – läuft außer mir niemand bei diesem Wetter hier herum.
Seltsamerweise kommt mir aber fast die ganze Strecke über jemand entgegen. Ich sehe nur seine Fußspuren – verkehrt herum. Den Menschen dazu sehe ich nicht. Dafür aber das hier:
Ein Bär. Ganz eindeutig. Auf einem Bein.
Ich laufe auf zwei Beinen weiter und achte erstmal darauf, dass mir der Schnee nicht in die Wanderschuhe schwappt. Meine neue Wanderhose ist winddicht, aber irgendwie zu kurz für meine Socken. Brauche ich jetzt etwa Kniestrümpfe? Oder „Longsocks“? Es dauert nicht mehr lange, und mir wird ein unverbindliches Angebot für eine lebenslange Mitgliedschaft im Eifelverein ins Haus flattern. In der Rurtal-Bahn würde ich jedenfalls nicht mehr als völlig unerfahren auffallen.
Jetzt aber bin ich allein. Und ich finde es HERRLICH. Schnee knirscht unter meinen Füßen. Ich bin davon überzeugt, dass es auch andere Geräusche gibt, für die meine Ohren aber nicht empfindlich genug sind. Sie freuen sich über die Stille.
Ich treffe auf den „Westwall“, der mir seit meiner Kindheit unter dem Namen „Höckerlinie“ bekannt ist, weil mein Vater als ehemaliger Bunker-Zerstörer liebend gerne seinen Bagger dazu benutzt hätte, jedes einzelne dieser Panzer aufhaltenden Höckerchen aus dem Boden zu reißen. Damit wäre der Westwall – oder zumindest Teile davon – endgültig Geschichte gewesen. Das ist er auch heute – aber anders: „Der Westwall, entlang der Westgrenze des Deutschen Reiches (bei den Alliierten auch unter dem Namen Siegfried-Linie bekannt), war ein über ca. 630 km verteiltes militärisches Verteidigungssystem, das aus über 18.000 Bunkern, Stollen sowie zahllosen Gräben und Panzersperren bestand. Er verlief von Kleve an der niederländischen Grenze in Richtung Süden bis an die Schweizer Grenze. Im Lauf der Zeit sind innerhalb der betonumfassten Flächen der Höckerlinie kleine faszinierende Biotope entstanden.“ Die habe ich im Sommer auch schon im Aachener Wald entdeckt. Grün sind sie dort geworden, die alten grauen Höcker. Moosbezogene Schönheiten.
So mit Schnee bedeckt wirken sie wie kleine, von Kindern (oder zeichnerisch begabten Menschen wie mir) gemalte Tannenbäumchen. Sehr unschuldig.
Ich stapfe weiter. Ein wenig kenne ich mich hier schon aus. Das ist auch gut so. Denn die schwarze Zwölf auf schneeweißem Grund ist in dieser Winterwunderwelt nicht immer leicht zu finden. Einige Male muss ich nach dem kleinen Schild fahnden, Schnee weg wischen, um die Zahlen freizulegen.
Neben mir plätschert es träge. Fließt kaltes Wasser langsamer als warmes? Ich werde meine Physiklehrer-Kollegen befragen müssen. Oder reicht mir die Antwort bei „gute frage.net“ aus? Dort hat jemand vor 8 Jahren auf eine ähnliche Frage geantwortet, dass Wasser bei 0 Grad am langsamsten fließt. Klingt irgendwie logisch. Darunter friert es schließlich zu Eis. Und Eis fließt nur im Sommer, wenn ich es nicht schnell genug von meinem „Hörnchen“ schlecke.
Nicht mal mit seinen Fragen ist man alleine.
Aber hier bin ich heute die Einzige, die dem langsamer werdenden Bachplätschern lauscht.
Wo ist sie denn nun, die Talsperre, von der ich – seit zwanzig Jahren etwa zwanzig Kilometer weit weg wohnend – vorher noch nie gehört habe? Dem Bach kann ich schlecht folgen. Zumindest jetzt noch halte ich mich an die Schwarze Zwölf. Irgendwann werde ich allerdings mitten in einem Waldstück und vor der Frage stehen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe, wenn ich schildergläubig durch das mir im Weg liegende Fließgewässer wate. Und das auch noch hügelabwärts. Tatsächlich, da ist sie wieder, die „Schwarze Zwölf“. Hinter dem Fließgewässer. Ich muss da durch. Zum Glück habe ich meine Schuhe vorher eingesprüht.
Ein bisschen unheimlich ist mir hier zumute. Es ist nicht so kalt, dass ich im Frühjahr, wenn normale Menschen hier herumlaufen, als Ötzi-Weibchen auf dem Tisch eines bio-historisch interessierten Pathologen aufgetaut würde. Wahrscheinlich würde ich vorher ohnehin das Interesse des einbeinigen Bären auf mich gezogen haben. Es bleibt mir nichts anderes übrig: Ich suche mir einen Stock, auf den ich mich stützen kann. Ich überwinde meine Angst und das winzige Fließgewässer. Und denke daran, dass ich während meines Biologie-Studiums einen Kurs in „Limnologie“ belegen und mir eigens dafür Gummistiefel kaufen musste. Da stand ich nun, mitten in einem Aachener Bach, umgeben von offensichtlich begeisterten Kommilitonen, und drehte Steine um, unter denen sich irgendwelche – hier kann ich’s ja sagen, liest ja keiner – eklige Egel oder wabbelige Würmer versteckt hielten, die ganz bestimmt nicht von mir gefunden werden wollten. Ich habe diesen Zweig der Wissenschaft nicht weiter verfolgt, sondern mich den „Staatenbildenden Insekten“ zugewandt. Den Waldameisen und fleißigen Bienen.
Dafür verfolge ich jetzt zur Abwechslung mal einen richtigen Weg, auf den ich als Belohnung für meinen Mut gestoßen bin.
Das Leben kann so einfach sein.
Und da ist sie, die Kalltalsperre. Eisgrau schimmert sie durch die kahlen Bäume. Ich hole meine winzige Wanderkarte heraus und stelle nach längerem Hinsehen, nach Drehen und Wenden und noch längerem Grübeln fest, dass ich den Weg ab Lammersdorf in umgekehrter Richtung genommen habe. Macht aber nichts. Verkehrt herum ist auch schön. Allerdings erklärt es die mir entgegenkommenden Fußspuren.
Hier, auf dem Weg, ist es irgendwie heimelig. Ich treffe auf eine Art „Reihenhaus-Siedlung“. Die Häuschen sehen alle gleich aus. Und sehr ordentlich deutsch. Die geraden Hausnummern rechts, die ungeraden links. Ob die Bewohner Zahlen lesen können?
Ein Stückchen laufe ich an der Talsperre entlang. Und entdecke tatsächlich Hinweise, die auch auf der Zwölfer-Karte eingezeichnet sind. Es ist noch ein weiter Weg bis zum Ziel.
Ich lande wieder im Wald. Es geht aufwärts, raus aus dem Kalltal. Ich gerate ins Schwitzen. Oben angekommen teile ich in einem der seltenen Netz-Momente meine Freude über die um mich herum zu sehende Pracht meiner Freundin mit, mit der ich am späten Nachmittag auf dem Aachener Tivoli zum Weihnachtssingen verabredet bin. Immerhin weiß sie jetzt, wo man den Suchtrupp hinschicken müsste, wenn ich nicht pünktlich zum „Oh du Fröhliche“ auf den schwarz-gelben Rängen erscheine. Weg mit dem Handy, weg mit der Zivilisation. Ich bin wieder allein. Das Netz ist verschwunden. Der Nebel lichtet sich.
Menschliche Spuren sind selten. Tierische auch.
Noch eine ganze Weile wandere ich durch die weiß gewordene Welt. Erst in Ortsnähe von Lammersdorf treffe ich auf meine Spezies, den Schlitten im Schlepptau. Das Auto bleibt nicht auf dem Schneeparkplatz stecken, die Straßen sind frei geräumt. Ich komme rechtzeitig zum Singen wieder in Aachen an. Vorweihnachtlicher kann ein Tag nicht sein.