War ich jemals in Gemünd? Ich glaube nicht. Auch dieser wirklich hübsche Ort lag bisher außerhalb meiner gedanklichen Reichweite. Gemünd – das liegt in der Eifel. Eifel – das bedeutet Plastikstühle, herbstliche Dekoration aus Jutebändern und Plastikkürbissen, forsche Seniorenwandervereine, Jugendherberge. „Mama“, sagt meine älteste Tochter, als ich ihr von meiner heutigen Wanderung berichte, „da war ich auf Klassenfahrt“. Eben! Sag ich doch!
Ich war auch schon öfter „auf Klassenfahrt“: in Bad Aachen (ja, tatsächlich. Es gab ein Jahr, da waren die Jugendherbergen in der Eifel ausgebucht). In Bad Münstereifel. In Bad Ems. In irgendwelchen Käffern, an deren Namen ich mich auch nach großer Anstrengung nicht erinnern kann. Am Gardasee. Aber das ist eine andere Nummer.
Heute fährt die „SB63“ zum letzten Mal. Die Wandersaison ist zu Ende. Die Rucksäcke werden geleert, die Stöcke in den Keller gestellt, die Wanderschuhe geputzt und eingesprüht. Das jedenfalls ist die Meinung der ASEAG. Ich habe mir fest vorgenommen, sie zu überprüfen und zu widerlegen. Frostige Tage, Raureif auf den Wiesen und den unter Buchenblättern verborgenen Wegen, Nebelschwaden und im besten Fall Schneeflocken werden doch echte Eifelvereinmitglieder und solche, die es wie ich nicht werden wollen, nicht abschrecken. Ich kann mich schon im „Hohen Venn“ entdecken, orientierungslos fluchend im Schneegestöber, nach roten und blauen Softshelljacken Ausschau haltend, in denen Menschen stecken, die über eine bessere Orientierung oder ein besseres GPS-Gerät verfügen als ich.
Heute morgen konsultiere ich wie jedes Mal kurz vorm Aufstehen das von Mark Z. ins Leben gerufene soziale Gesichtsbuch. Ich hoffe auf Nachrichten meiner neun Flugstunden entfernt lebenden Kinder – und werde nicht enttäuscht. Eine dieser Nachrichten enthält einen Link zur Mediathek des „Ersten deutschen Fernsehens“: Ist der Wald Medizin? Ein Film, in dem unser aller Lieblingskanadier mitspielen könnte.
In diesem Film geht es um die therapeutische Wirkung des Waldes. Um die Botenstoffe, die – von den Bäumen in meine Richtung gesandt – mir gute Laune machen. Tatsächlich ertappe ich mich auch bei dieser Wanderung mehrfach dabei, wie ich breit grinsend durch den Wald stapfe. Mich sieht ja niemand.
An dieser Stelle möchte ich mich für meine negative Kritik an meiner Wetter-App entschuldigen. Als ich wach werde, regnet es in Strömen. Fast bin ich versucht, mich im Bett nochmal rumzudrehen, aber die Aussicht auf einen Tag mit schlechtem Gewissen – die Schule ist eine Institution, der Sonn- und Feiertage völlig schnuppe sind, irgendeine Stunde will immer geplant, irgendeine Note will immer vergeben, irgendein Protokoll einer mehr oder weniger sinnlosen Sitzung will immer geschrieben werden – lässt mich nach meinem Lieblingsgerät und der darauf vorhandenen Wetter-App greifen. Die Aussichten für die Eifel sind gar nicht so schlecht, es gibt angeblich Regenpausen. Das wäre doch gelacht! Also los!
Die Busfahrt nach Gemünd dauert fast anderthalb Stunden. Und: Der Bus ist voll! Hä? Bei dem Wetter? Vorwiegend junge Menschen mit Regenjacken und Wollmützen diskutieren über sinnvolle Hosenlängen: „Hätte ich nur meine Dreiviertel-Hose mitgebracht!“ Es werden Erfahrungen ausgetauscht – „Also, ich hab in Köln damit angefangen.“, Prognosen erstellt – „Es soll ja gleich aufhören.“ – und Bananen gegessen. Etwa 500 Meter vor Einruhr wird mir alles klar: Heute ist Rursee-Marathon. Der Straßenrand ist zugeparkt, voll motivierte Menschen mit Sportzeug und Nummern auf Brust und Rücken marschieren in Richtung Start- und Zielpunkt, der Bus fährt eine andere Haltestelle als üblich an, alle steigen aus. Nur ich nicht. Ein ganzer Bus, nur für mich allein. Ich tue ganz entspannt, aber irgendwie ist das komisch. Eine etwa ein Viertel-Jahrhundert alte Erinnerung wird wach:
Ich sitze in einem vollen Bus und fahre durch die schon weit fortgeschrittene römische Nacht in Richtung Nonnenpension. Dort wohne und arbeite ich, unter der gestrengen Knute von – ja, tatsächlich – „Schwester Hildegard“. Rom bei Nacht ist etwas Besonderes. Es gibt so viel zu sehen! Es sieht alles so anders aus als tagsüber! Man merkt gar nicht, dass es an der fremden Busroute liegen könnte. Erst, als es draußen immer weniger zu sehen gibt und ich irgendwann alleine im Bus bin, wird mir schlagartig klar: Haltestelle verpasst – oder ganz falscher Bus! Der Fahrer fährt stoisch und ohne mich überhaupt wahrzunehmen dahin, wo er vermutlich immer hinfährt um diese Zeit: ins Busdepot. Das wäre auch in Ordnung, säße ich nicht zunehmend verängstigt – Entführung, Raub, Mord und Totschlag, Schwester Hildegard! – auf einem der hinteren Sitze. Ich will hier raus! Aber wo werde ich sein, wenn ich hier raus bin? Ich fasse mir ein Herz, wanke nach vorne, gebe mich zu erkennen und erwarte im besten Fall ein Anhalten am Straßenrand und ein Öffnen der Bustür. Wo ich hin will? Ich gebe meine Adresse durch. Mamma mia! Komplett andere Gegend! Aber – „Isch-schwöre!“, würden meine Schüler jetzt sagen – kein Problem für den römischen Busfahrer. Er dreht ab und fährt mich nach Hause. Nicht gerade bis vor die Tür der Nonnenpension, aber doch fast. Hinter den Mauern des Vatikans lässt er mich raus und ich brauche nur noch die Via delle Mura Aurelie hoch. Und finde den üblichen Zettel mit der Anweisung des morgendlichen Dienstes auf dem Treppenabsatz. Ein Glück, Schwester Hildegard hat nichts gemerkt. Sie wird mich zwei Wochen später trotzdem „entlassen“. Vielleicht kehre ich als Touristin nochmal zurück. Denn eigentlich ist es das perfekte Quartier.
In Gemünd hält der Bus an der Kirche und ich finde den Nationalpark-Info-Punkt und den Einstieg in den Wanderweg T7 fast auf Anhieb. Der Regen hat aufgehört und wird erst auf den letzten hundert Metern meiner Wanderung wieder einsetzen. Es ist kühl – ich vergesse immer wieder, dass die Eifel ein anderes Klima hat als die Stadt Aachen. Beim nächsten Mal werde ich meine Regenjacke mit dem dazugehörigen Fleece-Futter ausstatten müssen. Vielleicht auch eine warme Hose? Mal sehen.
Der Weg wird in der Beschreibung als „anspruchsvoll“ angegeben. Ist er aber nicht. Vielleicht ist der Aufstieg gemeint, der mich auf dem ersten Kilometer dann doch ins Schwitzen bringt. Aber sonst?
Ich stapfe durch Buchenlaub – wie schön das raschelt! – und ganz schnell, wie immer auf diesen Wanderungen, entspanne ich mich und mit mir entspannt sich meine Blase. Ich muss mal. Und auch, wenn doch vergleichsweise wenig Wandervolk unterwegs ist, muss ich nach einem Pipiplatz suchen. Vielleicht dort, hinter dem Verbotsschild? Von Sprengkörpern wie auf der Dreiborner Höhe ist hier nicht die Rede. Warum ist hier „Vorübergehend gesperrt“? Jagdsaison vielleicht? Könnte man mich für eine Wildsau halten? Schlagartig erschließt sich mir der Sinn der knallbunten Wandererjacken! Meine ist schwarz. Und das ist in manchen Situationen gar nicht so verkehrt.
Wieder auf dem Weg finde ich eine nasse Bank, auf der ich meinen Proviant auspacke. Der Kaffee ist noch warm, das Croissant nicht mehr knusprig, ein mit seinem Frauchen vorbeilaufender Hund würde trotzdem gerne mal reinbeißen, darf aber nicht, und – was sage ich! – die Wolken lassen ein bisschen blaue Farbe und den ein oder anderen Sonnenstrahl durch – nur ganz kurz. Mir ist das aber egal, ich mag dieses nebelige graue Wetter, der Wald ist bunt genug.
Auf dem Weg finde ein Eichenblatt mit einer gelben Kugel, wenig später eines mit einer braunen. Sind das Gallen?
Als ich noch Biologie studiert habe – lang ist’s her – haben mich Gallen ebenso interessiert wie Moose oder Farne. Leider ist mir mein Interesse an der Sache im Laufe des Unterrichtens immer mehr abhanden gekommen. Es ist schwer, den desinteressierten Blicken pubertierender „Kinder“ den eigenen Enthusiasmus zum Thema Gallen entgegenzusetzen. Kommt im Lehrplan ohnehin nicht vor.
Ich lese noch einmal nach, was ich eigentlich schon weiß: „Gallen“ – so schreibt der NABU“ – „sind abnorme Veränderungen von Pflanzenteilen wie Wucherungen, Verdickungen oder blasige Gebilde auf Blättern, an Stängeln oder Wurzeln. ( . . . )Die fleischigen, kugeligen oder zipfeligen Objekte sind das Werk von Bakterien, Fadenwürmern, Milben oder Insektenlarven.“ Hm. Mich wundert, dass der NABU für ein Naturphänomen das Adjektiv „abnorm“ benutzt.
Die Gallen, die ich hier auf den Eichenblättern gefunden habe, stammen vermutlich von der Eichengallwespe. Die Weibchen legen ihre Eier auf der Blattunterseite ab. „Die daraus schlüpfenden Larven benetzen kleine Areale an den Blattrippen mit Speichel. Dieser enthält Wirkstoffe, die das Blatt veranlassen, rund um die Larven Gallen zu bilden. Im Inneren der Behausung entwickelt sich die Nachkommenschaft gut geschützt in einer Kammer.“ Die Abwehrstoffe der Wirtspflanze sind Gerbstoffe, die von uns Menschen zum Gerben von Leder benutzt werden – auch heutzutage noch. „Aus Pflanzengallen wird auch die wertvolle Eisengallus-Tinte hergestellt. Sie ist absolut lichtecht und wird zum Unterzeichnen von Staatsverträgen benutzt.“ Bestimmt setzt Donald T. seine schwungvolle Unterschrift mit Tinte aus Gallen unter seine Dekrete. Wenn das die Wespen wüssten.
Ich laufe weiter. Ein bisschen bergauf geht es doch noch. Und dann lichtet der Wald sich, ein Gatter kommt in Sicht und eine schmale, asphaltierte Straße führt mich in den Ort „Wolfgarten“, von dem ich – wieso auch? – noch nie gehört habe. Bevor ich dort ankomme, treffe ich auf einen meiner kleinen, an dieser Stelle Realität gewordenen Wunschträume: Ich hätte gerne 🐔 🐔 🐔 Nur drei oder vier, der Eier wegen und wegen der Geräusche, die sie machen. Aber wo will man in der Stadt Hühner halten? Bei meinen Recherchen diesbezüglich stoße ich auf einen bekannten Aachener Bio-Hof. „Rent a Huhn“ ist die Devise. Das wäre ja noch was! Leider erfahre ich, dass die Schlachtung und der Abtransport des Eierproduzenten in den heimischen Suppentopf nach einem Jahr im Mietpreis inbegriffen ist. Was ist das denn? Nur, weil die armen Viecher während der Mauser nicht regelmäßig legen, scheint der eierliebende Endverbraucher die Geduld zu verlieren und braucht ein neues Huhn. Nee, das ist nichts für mich. Aber vielleicht kann man Menschen finden, die mit mir eine Wiese pachten, um eine ähnliche Hühneridylle wie diese hier zu schaffen:
Der ganze Ort Wolfgarten ist eine einzige Idylle.
Hier ist alles so sauber und proper und es gibt Pflastersteine und Wegkreuze und liebevoll gestaltete Vorgärten und Fachwerk und Bruchsteinhäuser. Ich gerate innerlich ins Schwärmen und komme im nächsten Waldstück auf die Kehrseite der Idylle. Nichts ist, wie es scheint. Hohlköpfe gibt es überall, und hier machen sie sich breit:
Zum Glück lassen die Schilder sich leicht abkratzen. Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Aber der Wald ist viel zu schön, um sich schlecht zu fühlen.
Und Regentropfen fallen erst auf der allerletzten Etappe, aber da retten mich der inzwischen geöffnete Info-Punkt mit seiner freundlichen Informantin und den sehr hübschen dort käuflich zu erwerbenden weihnachtlichen Wald-Dekorationsstückchen. Ich kann nicht widerstehen. Die Zivilisation hat mich wieder.