Hiking, Wandern, Unterwegs sein

Wanderung Nummer 4: Die Getzbach-Route

Schon nach drei Wanderungen merke ich: Die Routen der Aachener Zeitung sind mir nicht mehr genug. Ich will mehr. Mehr Wald. Mehr Ruhe. Mehr Natur. Mehr Moor.

„Haus Ternell“ scheint mir hierfür der geeignete Startpunkt zu sein. Ich behaupte, dass fast jeder Aachener meiner Generation diesen Namen schon einmal gehört hat. „Haus Ternell“ steht irgendwie für das „Hohe Venn“, steht für die Landschaft, bei deren Erwähnung ich jahrelang eher zusammengezuckt bin und freundliche Ausreden gesucht  und gefunden habe: „Sollen wir einen Spaziergang machen? Vielleicht durch’s Hohe Venn?“

Jetzt aber, mit dem in vier Kanada-Sommern gewachsenen Sinn für’s Draußensein, mit der Überlegung, was im Leben wichtig ist und was nicht, mit dem Gedanken, was ich denn heute noch tun würde, wenn es mein letzter Tag wäre, klingt das „Hohe Venn“ nach augen- und ohrenfreundlicher Umgebung, nach Waldduft, nach an meinen neuen Wanderschuhen saugenden schlürfenden und matschenden und moorigen Wasserlachen. Im Matsch spielen gehört nicht zu meinen prägendsten Kindheitserinnerungen. Wohl aber die: Ich lande mit einem bis dahin weißbestrumpften Bein in einer Öltonne. Und stecke vor Schreck das andere Bein auch noch rein. Wer A sagt, muss auch B sagen. Entsetzen, Verstecken, sinnlose Waschversuche, ungläubige Blicke meiner Eltern. Gab’s Prügel? Lachanfälle? Ich weiß es nicht mehr.

Jetzt also das Moor. Dieses Mal muss für die Anreise wieder das „Cambio“-Auto herhalten. Am Ende wird mich diese Wanderung ungefähr 20,- € kosten – aber besser konnte ich meinen Sonntag nicht verbringen!

Fast schon routiniert packe ich meinen blauen Rucksack, drucke meine Google-Anreise aus, lade mir die „Getzbach-Route“ als Offline-Karte aus der „Komoot-App“ auf meinen iPod und fahre los. Startpunkt der Reise ist das bereits erwähnte „Haus Ternell“, an dem ich vor vielen Jahren einmal gelandet bin, ganz bestimmt nicht aus eigenem Antrieb, und das über einen Parkplatz verfügt, der proppenvoll ist, denn: Hier kann man auch essen! Meine Erfahrung lehrt mich, meinen Startpunkt nicht eigenmächtig zu verlegen, zumal ein schneller Blick auf meine Offline-Karte und auf mein Handy mir klarmachen, dass ich mich hier erneut auf mich selbst und diverse Hinweisschilder verlassen muss. Die Aussage der auch hier freundlichen Info-Center-Dame „Da hinten, an der Tafel mit der Wanderkarte, funktioniert das GPS wieder“ trifft für mich und meine Gerätschaften nicht zu. Irgendwas mache ich falsch.

Ich suche mir also eine Parkmöglichkeit irgendwo an einer Waldeinfahrt, hoffe, dass mein Auto nicht zu tief im weichen Lehmboden versinkt und gehe unter Einsatz meines Lebens – die Straßenstrecke ist so marode, dass ein Spaßvogel ein Schild mit dem Titel  „Highway to hell“ aufgestellt hat, und die häufig deutschen Autofahrer verstehen das  offenbar als Einladung zum Rasen – zum Startpunkt zurück, um mit der freundlichen Wanderführerin zu besprechen, worauf ich achten muss. Sie drückt mir – überzeugt von meinen Fähigkeiten, mich damit zurechtzufinden – eine Wanderkarte in die Hand, warnt mich vor dem ersten Stück des Weges bis runter zum Getzbach – „Danach ist der Weg gut ausgebaut und ganz einfach zu laufen“ – und hofft, mich vor Schließung des Info-Lokals wiederzusehen. Das wird nicht klappen. Ich werde für diese Strecke viel länger brauchen als die angegebenen dreieinhalb Stunden. Wegen meiner leckeren Picknick-Sachen, wegen des zu schnuppernden Wald-Duftes, wegen der machmal fehlenden Hinweisschilder – dieses Mal muss ich auf ein grünes Kreuz  +  achten – und der daraus resultierenden Umwege.  Gegen sechs Uhr werde ich unruhig werden, in die falsche Richtung laufen – weit und breit kein grünes Kreuz auf weißem Grund, dafür aber ein großer grüner irreführender Pfeil – mich fragen, wie ich ohne funktionierendes Handy nach einer Waldnacht morgen früh mein Nicht-Erscheinen in der Schule erklären soll – und auf ein junges Paar treffen, das mich auf Englisch darüber aufklärt, dass „House Töörnell“ da hinten um die Ecke liegt. Ich erinnere mich an den Struffelt-Stein. 😂 Und stelle fest: Ich muss wieder lernen, mich auf meine Ohren zu verlassen. Der „Highway to hell“ ist ziemlich deutlich hörbar.

Der Abstieg ins Getzbach-Tal erweist sich als glitschig, matschig, rutschig. Leider liegt hier kein Ast am Wegesrand, auf dem ich mich abstützen könnte. Ich schaffe den Abstieg, der länger ist als vorher vermutet, ohne mir Hals und Beine zu brechen und auch, ohne im Matsch zu landen. Neben dem Plätschergeräusch des Baches höre ich muntere Unterhaltungen mehrerer Wandererkollegien, die mich beunruhigen: Sollte dies hier die Hauptstrecke der sonntäglichen Venn-Fans sein? Muss ich etwa die Natur mit Haufen von Aachenern teilen, die sich wie ich nach Ruhe sehnen, gefährliche Rutschpartien in Kauf nehmen und dann statt dem Blätterrauschen zu lauschen unfreiwillige Teilhaber tief schürfender Gespräche über Sinn und Zweck der Briefwahl für Wanderer werden? Wird Martin Schulz neuer Bundeskanzler? Sollte auch ich das nächste Mal Briefwahl beantragen, um rechtzeitiger auf der Wanderstrecke zu sein und drohendem Verirrungs-Dunkel im belgischen Venn besser vorbeugen zu können? Wann kaufe ich mir Wanderstöcke?

Ich lande am Getzbach. Sehe einen grünen Pfeil auf weißem Grund. Finde beides auf der Wanderkarte. Wende mich nach links. Ein gut ausgebauter Weg. Für mich allein. Beruhigendes Bachplätschern. Zeit für die ersten blauen Trauben.

 

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Die „Getzbach-Route“ führt mich am Bach vorbei, durch Buchenwälder, hügelauf, hügelab, über breite helle Wege, dunkle rutschige Pfädchen, über kleine Brücken, Stolpersteine, glitschige Wurzeln und herumliegende Äste, von denen ich mir den ein oder anderen greifen muss, um eine Stütze zu haben. Kurzum: Ich finde die Route nicht ganz so bequem, wie mir die Wanderführerin suggeriert hatte. Das liegt sicher an unseren unterschiedlichen Wander-Erfahrungen. Der Weg ist schön. Abwechslungsreich.    Anstrengend. Zumindest für mich. Es ist wenig los. Bis auf eine deutsche Familie und eine Englisch sprechende Gruppe junger Leute begegne ich niemandem mehr. Der überwiegende Teil führt durch den Wald. Lange laufe ich am Getzbach entlang, irgendwann durch offenere Wiesen- und Heidelandschaft.

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Ich treffe auf fette rote Fliegenpilze, die in den Büchern meiner Kindheit als gefährlich giftig beschrieben wurden, und die ich bisher sehr selten „in echt“ gesehen habe. Überhaupt scheint es ein Pilzjahr zu sein. Selbst meinem ungeübten Auge fallen die vielen verschiedenen Pilzsorten auf, die aus totem Holz sprießen, am Wegesrand stehen, unter braunem Laub hervorlugen. Nicht selten finde ich einen Steinpilz. Oder das, was ich dafür halte. Meine Hand ins Feuer legen würde ich dafür nicht.

 

Gegen Ende des Weges treffe ich auf den Ternell-Bach. So sagt jedenfalls die Karte, die ich dann doch bemühen muss. Schilder mit grünem Kreuz? Mangelware. Irgendwann wird auch klar, warum: Ich habe mich verlaufen. Und da ich spät losgegangen bin an diesem Wahlsonntag, wird es irgendwie auch schon dunkler im dunklen Wald. Zurück zur falschen Abbiegung. Den anderen Weg. Da hoch? Okay. Erleichterung am nächsten grünen Kreuz.

Der Rest des Weges ist Geschichte. Siehe weiter oben. Das Ergebnis des Wahlsonntags auch. Kurz nach Schließung der Wahllokale schließe ich die Tür meines Cambio-Autos auf. Drücke auf den Radio-Knopf. Angie und Martin haben herbe verloren. Martin ist sauer. Angie muss nach Jamaika. Und ich nach Hause. Die AFD wird sich selbst zerfleischen. Die Welt wird nicht untergehen. Der Wald wacht weiter über seine Wanderer.

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